Helmstedt. Der Lyriker Johann Voß wird anlässlich des Jahrestages der Reichsprogromnacht musikalisch der Opfer gedenken. Aber der 9. November hat noch mehr deutsche Geschichte zu bieten – traurige ebenso wie fröhliche.
Der Terror der Hamas in Israel und die zunehmende Fremdenfeinlichkeit in Deutschland und Europa rücken den 9. November in diesem Jahr vermutlich in ein besonderes Licht. Aber auch ohne Bomben im Gaza-Streifen stellt der 9. November einen „Schicksalstag“ in der deutschen Geschichte dar.
Die Ausrufung der Republik in Deutschland (1918), der Hitlerputsch (1923), die Novemberpogrome (1938) sowie der Fall der Berliner Mauer (1989) – all diese wichtige Ereignisse fielen auf diesen Tag.
IG Metall fordert: Rechtsradikalen den Nährboden entziehen – 9. November als Mahnmal für den Kampf für die Demokratie
„Der 9. November steht wie kaum ein anderer Tag für die wechselseitige Geschichte Deutschlands und zeigt in rascher Abfolge die wegweisenden Wendungen des Landes im 20. Jahrhundert. Freud und unsägliches Leid sind beidseitig mit diesem Datum verbunden“, schildert IG Metall-Bezirksleiter Thorsten Gröger. Jener 9. November sei bis in die heutige Zeit hinein eine Mahnung: „Der Schicksalstag ist eine Mahnung für Demokratie einzutreten und ist Appell sowie Auftrag, sich gegen extremistische Bestrebungen im Land einzusetzen. Dieser wechselhafte Tag zeigt, wie fragil Demokratie ist und was Menschen auf sich nehmen, um Diktaturen und Ungerechtigkeiten zu überwinden.“
Man müsse jedoch attestieren, dass nach wie vor nicht in allen gesellschaftlichen Teilen eine demokratische Grundverankerung zu finden ist: „Ob als vermeintliche Kritik an der Corona-Politik getarnt oder ganz offen im Kontext des Ukraine-Krieges: Rassismus und Antisemitismus sind immer noch an der Tagesordnung. Offen relativieren Rechtsextreme den Holocaust, rechtfertigen Gewalt sowie Hass gegen Geflüchtete und stellen unser Grundgesetz in Frage. Es ist unerträglich, darf aber nicht nur eine Beschreibung bleiben. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe aller Demokratinnen und Demokraten im Land, sich für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung einzusetzen.“
Die Zahl der Todesopfer rechtsextremer Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland sei erschreckend hoch: „Ob Halle, München, Hanau, Idar-Oberstein oder Königs Wusterhausen-Senzig: Rechtsradikale gefährden den gesellschaftlichen Frieden im Land. Daher muss es Aufgabe aller sein, jenen Demokratiefeinden den Nährboden zu entziehen. Ja, man kann mit Politik unzufrieden sein, man darf protestieren. Das ist unser aller Grundrecht. Es gibt aber nun mal Spielregeln in unserer Demokratie und die müssen auch für Verschwörungstheoretiker, Neonazis und andere Radikale gelten – ansonsten ist der Staat gefragt, und ich erwarte von der Bundesregierung ein noch konsequenteres Vorgehen gegen Rechts.“
Mit Sorge blickt der Metaller auf das aktuelle gesellschaftliche Klima: „Im Zuge der verschärften Nahost-Krise sehen wir, dass Antisemitismus weiter zunimmt. Und eben nicht nur von rechts. Menschen, die Kippa tragen, werden offen angegriffen. Jüdische Restaurants geraten ins Visier von Radikalen. Hassparolen werden skandiert, Israelflaggen verbrannt und jüdische Mitbürger leben in Angst. 85 Jahre nach den abscheulichen Novemberpogromen müssen wir traurig attestieren: Jüdinnen und Juden müssen in Deutschland auch im Jahr 2023 um ihre Sicherheit bangen. Das darf nicht sein. Es ist jetzt an der Zeit, dass das „Nie wieder“ keine Floskel ist, sondern mit Leben gefüllt wird. In aller Schärfe verurteilen wir jede Form von Antisemitismus. Ich habe die klare Erwartung, dass die Politik hier rasche Antworten gibt und sich nicht nur in Floskeln übt.“
Johann Voß singt und liest für den Frieden
Antisemitismus ist auch das Stichwort, das den Lyriker Johann Voß bewegt. Zum 85. Jahrestag der Progromnacht am Donnerstag, 9. November 2023, wird er um 17 Uhr auf dem Helmstedter Marktplatz lesen und singen.
Das kündigt er so an: Reinhard Mey sagt „Nein, meine Söhne geb ich nicht!“; Hannes Wader ist müde vom Singen der Antikriegslieder, weil immer wieder irgendwer einen neuen Krieg beginnt; Pete Seeger holt die Blumen auf den Gräbern der getöteten Soldaten in seine Verse; Udo Lindenberg fragt mit einer zehnjährigen Sängerin „Wozu sind Kriege da?“; im Lied vom Nobelpreisträger Bob Dylan verweht die Antwort im Wind… Und trotz alledem hören wir auch die hoffnungsvollen und widerständigen Töne: Die Auschwitz-Überlebende Esther Béjarano singt „Wir leben ewig“; die 102-jährige Überlebende Margot Friedländer mahnt „Wir sind alle gleich – es gibt kein christliches, muslimisches, jüdisches Blut. Es gibt nur menschliches Blut. Ihr habt alle dasselbe. (…) Seid doch Menschen!“
Gleichzeitig ruft Voß dazu auf, Blumen und Lichter mitzubringen, um diese zu verschenken.
Mauerfall wird am Sonnabend gedacht
Des Mauerfalls in Deutschland wird indes am Sonnabend beim „Empfang zum 9. November 1989“ der Stadt Helmstedt gedacht. Die in Helmstedt geborene und aufgewachsene Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, GFeichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen, Josefine Paul, wird den Festvortrag halten.
Katja Weber-Diedrich, geboren 1976 in Helmstedt, ist seit fast 30 Jahren Lokaljournalistin durch und durch. Der Legende nach tippte die ehrenamtlich Engagierte vor 25 Jahren den ersten HELMSTEDTER SONNTAG an einer Bierzeltgarnitur. Sowohl die Tiefen der deutschen Grammatik als auch die Wirren der Helmstedter Politik sind der Chefredakteurin nicht fremd; ihr Markenzeichen sind ehrliche Kommentare und Hartnäckigkeit.