Schöningen. Mit ihm geht ein Urgestein in den Ruhestand: Nach mehr als 30 Jahren verabschiedete sich nun der Vorarbeiter Wolfgang Mertens in die Rente. Mit ihm geht nicht nur der Mann, der die weltberühmten Schöninger Speere Mitte der 1990er Jahre ausgrub. „Vielmehr verlässt ein echtes Original die archäologische Grabung“, so Bürgermeister Malte Schneider, der sich beim Grabungsmitarbeiter für die jahrzehntelange Arbeit persönlich bedankte.

1989 stieß Wolfgang Mertens zur archäologischen Grabung am Rande des Braunkohletagebaus, die einige Jahre später Weltrang erlangen sollte. „Beim Speer 1 … da hat man gesagt: Oh, jetzt wird es aber langsam kritisch, dass wir da plötzlich in Regionen kommen, die Weltsensation sind! Und dann ging es ja richtig los!“, erinnerte er vor einigen Jahren in einem Interview mit dem Deutschlandfunk im Rahmen der Serie „Reisen zu den Ursprüngen der Menschheit“ an den Fund.

Grabungen mit prominenten Besuchern

Neben der Arbeit auf der Grabung führte er im Auftrag des paläon beziehungsweise jetzt Forschungsmuseums Schöningen auch Hunderte von Menschen an den Originalfundort der ältesten Jagdwaffen der Menschheit und ließ sie in das Abenteuer Archäologie eintauchen. In den vergangenen 32 Jahren waren auch immer wieder prominente Besucher aus internationaler Wissenschaft und Politik auf der Grabung zu Gast, denen er von den aufregenden Funden berichtete, denn Säbelzahnkatze und Waldelefant folgten den Speerefunden inzwischen.

Eine Ära geht zu Ende

Für den langjährigen Grabungsleiter Dr. Jordi Serangeli endet nun eine Ära: „Wolfgang war derjenige, der zu einer Telefonzelle gefahren ist, als ein Stoßzahn entdeckt wurde, um Dr. Hartmut Thieme, den damaligen Leiter der Ausgrabung, zu informieren“, berichtet er. „Er war da, als der erste Wurfstock 1994 sowie alle Speere zwischen 1995 und 1999 entdeckt wurden. Er hat sich zusammen mit der Grabungsmannschaft überlegt, wie man solche Funde am besten bergen und retten könnte. Wolfgang war derjenige, der zusammen mit Peter Pfarr und unter der Leitung von Dr. Hartmut Thieme auch noch mit Schwarzweiß-Filmen die Funde als erster dokumentierte und sie oft eigenhändig ausgegraben hat. Er war da, als ein Schatz nach dem anderen von der Ausgrabung geborgen wurde, darunter auch den zweite Wurfstock 2016, ein ganzer Elefant 2017 bis 2019, Säbelzahntiger, Steinartefakte zum Schneiden von Fleisch und Felle oder zum Herstellen von Holzspeeren. Er hat so viele Funde entdeckt und ausgegraben, wie kaum ein Archäologe oder Paläontologe auf der Welt von sich sagen kann. Er hat so viele geologische Profile dokumentiert und fotografiert, wie sicher kein Geologe auf der Welt je gemacht hat. Er hat sein Leben der Fundstelle Schöningen gewidmet, und dafür gebührt ihm ein großer Dank. Dort, wo immer wieder große Institutionen wie das Niedersächsische Landesamt für Denkmalpflege, das Ministerium für Wissenschaft und Kultur, die Universität Tübingen und die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung sowie Minister, Professoren und Doktoren glänzen konnten, steckte die Arbeit der Grabungsmannschaft von Schöningen dahinter. Wenn diese fünf bis sechs Grabungsarbeiter aus Schöningen der Motor des Projektes sind, ist Wolfgang der Schalter gewesen. Derjenige, der so gut wie jeden Tag seit 30 Jahren vor Ort war. Derjenige, der als erster die Grabung betrat und als letzter verlassen hat. Derjenige, der als erster kam, wenn nach einem Sturm etwas zu reparieren war. Derjenige, der die Arbeit auf der Grabung verteilt hat. Er ist derjenige, der sich bis zu seiner Rente immer wieder verbessern wollte, sich mit der neuen Technik auseinander gesetzt hat und auf der Ausgrabung zum Einsatz brachte (oder dessen Einsatz duldete). Wolfgang Mertens ist derjenige, der voll Begeisterung zahlreiche Besucher auf „seine Fundstelle“ geführt hat. Wenn er dann seine Geschichten aus erster Hand erzählt hatte, wurden schnell aus einer Stunde zwei oder mehr. Wolfgang Mertens ist derjenige, der, oft zusammen mit Neil Haycock, Hunderte von Studierenden aus ganzen Welt in die Ausgrabung in Schöningen eingeführt hat. Viele von ihnen arbeiten jetzt auf allen Kontinenten der Welt und tragen ihn, so wie die Stadt Schöningen, in sehr guter Erinnerung mit sich. In der Stadt Leiden in den Niederlanden, von wo aus Prof. Thijs van Kolfschoten mit circa zehn Studierenden für das alljährige Praktikum nach Schöningen kam, haben viele Studenten ihn und seine Art ins Herz geschlossen. Wolfgang ist derjenige, der sich ohne mit der Wimper zu zucken in den Schlamm geworfen hat, wenn es nötig war. Er hat sich nie beirren lassen, wenn das eine oder andere nicht immer perfekt oder per Knopfdruck funktioniert hat. Er ist sich in all den Jahren treu geblieben, immer 120-prozentig engagiert und begeistert gewesen, immer auf der Suche nach dem nächsten Fund, immer durstig nach der nächsten Erkenntnis. Kurz, ohne ihn wäre Schöningen nicht „die Stadt der Speere“. Wir hoffen alle, dass Wolfgang Mertens auch jetzt, da er offiziell seine Rente angetreten hat, die Ausgrabung und Forschung in Schöningen mit gutem Rat und der gewohnten Treue für noch viele Jahren zur Seite stehen wird“, so die Laudatio des Wissenschaftlers und langjährigen Weggefährten.

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Natalie Tönnies, geboren 1999 in Schönebeck (Elbe), ist das Küken in der Redaktion des HELMSTEDTER SONNTAG und steckt mitten in ihrem Volontariat. Die Danndorferin ist eine leidenschaftliche Sportschützin mit einer kleinen Abneigung gegenüber (Führerschein-)Prüfungen. Sie schreibt unheimlich gerne die Fleischerseite des HELMSTEDTER SONNTAG.