Helmstedt. Der ehemalige Bundespräsident begeisterte bei der Vorstellung seines Buches „Erschütterungen“ das voll besetzte Juleum in Helmstedt.

Als er das erste Mal in Helmstedt zu Besuch war, war er auch schon ein Ehemaliger: ehemaliger Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Das war im November 2007, als der Verein Helmstedt grenzenlos seinen zehnten Geburtstag mit einem besonderen Festredner im Rathaus feierte. Daran wurde Joachim Gauck erinnert, als er am Dienstag zum zweiten Mal in Helmstedt zu Gast war. Diesmal auf Einladung des Landkreises Helmstedt – genauer gesagt des Leiters der Kreismuseen Dr. Matthias Meinhardt und der Kulturabteilung. 

Ein großes Publikum lauschte im Juleum

Inzwischen ist Gauck ein noch viel bekannterer Ehemaliger, ein offenbar beliebter noch dazu:  Ein sehr großes Publikum wollte hören, was der frühere Bundespräsident im Juleum darüber zu sagen hatte, welche Erschütterungen von innen und außen die Demokratie bedrohen.  So in etwa heißt das jüngste Buch, das Joachim Gauck zusammen mit Helga Hirsch geschrieben hat: „Erschütterungen – Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht“.  Dass es viele schlechte Einflüsse gibt, machte der Bundespräsident a. D. aufgrund einer Fülle an Themen, die er ansprach, deutlich.  Die Zuhörenden hingen dem Vortragenden bis zum Ende seiner Ausführungen rund anderthalb Stunden quasi an den Lippen, sogen das Gesagte geradezu auf und waren manches Mal selbst erschüttert – darüber, wie einfach sich die Welt, das Ansinnen von Herrschsüchtigen und Narzissten doch erklären lassen. 

Gauck redete Tacheles

Obwohl mit 85 Jahren „im fortgeschrittenen Alter“, fand Joachim Gauck klare, oft moderne Worte, sprach von „Typen“ und darüber, mit ihnen „Tacheles“ reden zu müssen. Zudem gab es von dem mitten im Zweiten Weltkrieg in Rostock Geborenen eine Gratisstunde in „Sowjetkunde“. Joachim Gauck, der die Repressionen der sozialis-tischen Diktatur am eigenen Leib erfuhr, beschrieb unterhaltsam, wie Wladimir Putin zu dem Mensch wurde, der er heute ist. Ebenso machte er deutlich, dass Schluss sein müsse mit einer romantischen Vorstellung vom „märchenhaften Russland“.  Deutschland und Europa müss-ten sich mit aller Kraft gegen den Diktator aus Moskau und seine durch Lenin, Stalin und Breschnew geprägte Regierungsform wehren. Dazu zählte die Unterstützung der Ukraine – auch und besonders durch Waffenlieferungen. Denn es funktioniere nicht, dass andere durch die eigene Friedfertigkeit friedfertiger würden. 

Ein Blick in die Vergangenheit

„Sicherheit in Europa ist zurzeit nur gegen Russland zu haben“, machte Gauck gleich mehrfach deutlich. Putin könne nur mit Stärke begegnet werden. Denn er habe sein eigenes Volk entrechtet und alle Macht im Staat in eine einzige (seine) Hand gelegt.  So sei es schon in der DDR gewesen, blickte der gebürtige Rostocker zurück: Die Menschen seien über lange Zeit erfolgreich eingeschüchtert und zu einem Volk in Angst geworden. Dass die DDR am Ende zugrunde ging, indem die Menschen plötzlich aufstanden, für ihre Freiheit auf die Straße zogen und „Wir sind das Volk“ skandierten, sei großes Glück gewesen.  Joachim Gauck beschrieb dieses „Glück der Wiedervereinigung“  mit seiner persönlichen Erfahrung: Als er im Alter von 50 Jahren zum ersten Mal frei wählen durfte, habe er vor Freude ein paar Tränchen verdrückt. Und weil die freien Wahlen ein so hohes Gut seien, komme es für ihn niemals in Frage, nicht wählen zu gehen. 

Sein Wunsch? Ein Land, dass man immer verlassen kann

Das müsse man allen Nicht-Wählenden vor Augen halten und ihnen die Vorteile des Lebens in einer Demokratie aufzählen: das Recht zu wählen, die Möglichkeit, offen die Meinung zu sagen, Vereinigungen zu gründen und alles zu lesen, was man möchte. Des Weiteren lobte Joachim Gauck das Leben in einem Rechts- und Sozialstaat sowie die Tatsache, dass kein Politiker Krieg wolle. Ebenso sei positiv, dass es die Glaubens-, Kunst und Wissenschaftsfreiheit gibt. Und dem früheren Bundespräsidenten ist wichtig, in einem Land zu leben, das er verlassen kann, wann immer er möchte. 

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Katja Weber-Diedrich, geboren 1976 in Helmstedt, ist seit 30 Jahren Lokaljournalistin durch und durch. Der Legende nach tippte die ehrenamtlich Engagierte vor 25 Jahren den ersten HELMSTEDTER SONNTAG an einer Bierzeltgarnitur. Sowohl die Tiefen der deutschen Grammatik als auch die Wirren der Helmstedter Politik sind der Chefredakteurin nicht fremd; ihr Markenzeichen sind ehrliche Kommentare und Hartnäckigkeit.