Helmstedt. Am 27. Januar 1945 wurde das Vernichtungslager Auschwitz befreit. Der Jahrestag der Befreiung wurde 1996 auf Initiative des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog offizieller deutscher Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus.
An die schlimmen Verbrechen der Nationalsozialisten zu erinnern, das ist ein Anliegen, das den Lyriker Johann Voß zu verschiedenen Aktionen antreibt. Und so wird er auch am Freitag, 27. Januar 2023, aktiv werden.
Um 13.15 Uhr tritt Voß an der Gerechtigkeitssäule am Amtsgericht in Helmstedt einige Gesichte vortragen und Großplakate auslegen, „in der Hoffnung, dass sie die Lesenden stärken und ermutigen“, kündigt der Lyriker an. Er lädt Interessierte nicht nur dazu ein, dabei zu sein, sondern zugleich Blumen und Lichter mitzubringen und diese zum Gedenken niederzulegen.
Das zeigt die Gerechtigkeitssäule
Die Gerechtigkeitssäule vor dem Amtsgericht Helmstedt, eine Arbeit des Bildhauers Siegfried Neuenhausen, wurde 1985 im Auftrag des Staatshochbauamtes I in Braunschweig und der Landesjustizverwaltung errichtet.
Der 5,50 Meter hohe Obelisk ist aus hochgebranntem dunkelbraunen, roten und weißgelben Ton aufgebaut und in sechs Reliefringe gegliedert.
Die Bildelemente des als Mahn- und Lernort gestalteten Kunstwerks gehen in Szenen und Allegorien auf Prinzipien von Recht und Gerechtigkeit ein. Als Mahn- und Lernort verbindet das Rechtsmal Fragen und Antworten und sollte so als Aufforderung verstanden werden, aus der Geschichte zu lernen, neuen Herausforderungen zu begegnen und stets der Gerechtigkeit zu dienen.
Das sind die Beweggründe Johann Voß‘
Nach seinen Beweggründen gefragt, erinnert sich Johann Voß: „Im November 1989 gehörte ich einer Autorengruppe an, die von der Aktion Sühnezeichen und der Lagergemeinschaft Auschwitz in die Jugendbegegnungsstätte Oswiecim eingeladen wurde. Organisiert vom saarländischen Journalisten Peter C. Keller, berichteten uns eine Woche lang 25 ehemalige Häftlinge vom Lageralltag, vom Sterben, vom Überleben und von der Flucht. Unter ihnen befand sich auch Kasimierz Smolen. Er leitete damals als ehemaliger Häftling zusammen mit Krystina Oleksy das Museum Auschwitz. Die beiden zeigten uns unter anderem die Todeswand im Stammlager, die berüchtigten Stehbunker, die Loren vor den Verbrennungsöfen, den Aschsee im hinteren Bereich des riesigen Feldes in Birkenau.“
Voß verarbeitete das Gesehene und Gehörte seinerzeit auf die für ihn typische Art. Es entstanden Gedichte und Lieder, die er mittags in Helmstedt und am Abend noch einmal bei einer Veranstaltung in Oschersleben vortragen wird.
Aber wie üblich möchte Voß nicht nur zurückschauen, sondern auf aktuelle Probleme aufzeigen. So thematisieren weitere Verse rassistische Übergriffe und Tötungen der heutigen Zeit. Sie beziehen sich nach Auskunft des Lyrikers unter anderem auf die Brandschatzung von Neonazis in Tröglitz, auf die Ereignisse vor der Synagoge in Halle, auf die Tötungen in Hanau, auf das Massaker in Utoya, auf die Ermordung des Afroamerikaners George Floyd in Minneapolis im Mai 2020.
„Was sehen und spüren wir an solchen Tagen in unserem Innern, wenn wir uns erinnern?“, fragt Johann Voß und antwortet: „Ja, uns darf zunächst die läuternde Kraft der Trauer innewohnen. Zugleich können wir ihre mutigen und klugen Schwestern spüren, die Kraft der Empörung und die Kraft der Anklage, die wir durch aktives widerständiges Handeln nach außen tragen.“
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Johann Voß‘ Gedanken zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar
• klagelied vom aschseegrund
oh decke mich mit
worten zu und hüll mich
ganz in schweigen wo
find ich meine
seelenruh wem kann ich
meine liebe zeigen
wie gern hielt ich
mein schwarzes haar
noch einmal in
den sommerwind ich
lebte statt siebzehn
siebzig jahr mein kind
hätt schon ein kind
leg deine hände auf
mein grab küss meinen kalten
tränenmund du bist mein
liebster und ich hab
sonst keine liebe mehr
am aschseegrund
(In Birkenau, nahe dem kleinen Krematorium, wurde die Asche der Verbrannten in eine große Aushebung geschüttet. Heute ist dort ein See.)
—
• nazilogik
juden
zigeuner
kriminelle
sozialdemokraten
homosexuelle behinderte
und widerständler
wurden zu schädlingen erklärt
sagt der ehemals
zum schädling erklärte
kasimierz smolen*
und was macht man
mit schädlingen?
logisch, man
vernichtet sie.
und womit?
auch logisch:
mit einem
schädlingsbekämpfungsmittel
das ist doch einfach
zu verstehen, oder?
sagt smolen
und versteht
dass ich es verstehe
und nicht verstehe
(*Kasimierz Smolen leitete als ehemaliger Häftling lange Jahre das Museum Auschwitz)
—
• mal vier
ein jahr kz-haft
entspricht nach
ärztlicher erkenntnis
vier lebensjahren
in freiheit*
nach dieser rechnung
könnten deutsche
prokuristen und politiker
die sogenannte
„entschädigungsleistung“
für ehemalige
polnische kz-häftlinge
vervierfachen
wer hätte dann
ein ruhiges gewissen
auf dem gewissen?
und in welcher freiheit?
und vierfach?
und wie lange?
(* In diesem Sinne äußerte sich Prof. Adam Szymusiek in der psychiatrischen Klinik in Krakow, wo er seit 1950 ehemalige KZ-Häftlinge und deren Kinder betreute.)
—
• der kalligraph
ich schreibe eine eins
wie eine eins ein a wie
asphodele ein z wie
zauberwald die schrift
ist der spiegel der seele
ich habe das alles
schön aufgeschrieben
name vorname datum uhrzeit
wenn luft in die vene
gespritzt wurde musste ich
herzversagen schreiben ein h
wie eine hyazinthe ein n
wie niemandsland
ich habe das alles gesehen
und weil ich schön
schreiben konnte
habe ich auschwitz
überlebt
ich schreibe eine eins
wie eine eins ein a wie
asphodele ein z wie
zauberwald die schrift
ist der spiegel der seele
(Nach dem Bericht eines ehemaligen Häftlings, der schön schreiben konnte.)
—
• aller anfang
mit dem wissen
von damals
hätte ich damals
vielleicht
nur hitler
im sinn gehabt
wenn ich heute
das wissen über
das damals
nur im sinn habe
und nichts damit anfange
wovon wäre das
ein anfang?
Katja Weber-Diedrich, geboren 1976 in Helmstedt, ist seit fast 30 Jahren Lokaljournalistin durch und durch. Der Legende nach tippte die ehrenamtlich Engagierte vor 25 Jahren den ersten HELMSTEDTER SONNTAG an einer Bierzeltgarnitur. Sowohl die Tiefen der deutschen Grammatik als auch die Wirren der Helmstedter Politik sind der Chefredakteurin nicht fremd; ihr Markenzeichen sind ehrliche Kommentare und Hartnäckigkeit.