Schöningen. Im Dezember 2007 verließ der letzte Zug der Deutschen Bahn den Schöninger Bahnhof. Seitdem ist die Strecke zwischen Schöningen und Schöppenstedt still gelegt – aber nicht entwidmet. Über ein Jahrzehnt passierte weder an den Gleisanlagen, noch am Bahnhof in Schöningen etwas – doch zum Jahresbeginn 2019 gab es endlich Neues zu berichten. Und zwar durchaus Positives.

Es war ein spätherbstlicher Morgen. Laub lag auf den Gehwegen, Frühnebel füllte die Luft. Es war der Morgen, des 7. Dezembers 2007, zwei Tage bevor bei der Deutschen Bahn der Fahrplanwechsel anstand. Der letzte reguläre Nahverkehrszug sollte an diesem Tag den Schöninger Bahnhof passieren, mehr noch: zum letzten Mal sollten sich am Schöninger Bahnhof zwei Nahverkehrszüge aus entgegen gesetzter Richtung begegnen. Grund genug für Bahn-Fans, Nostalgiker und allerlei Menschen, die mit dem Schöninger Bahnhof aufgewachsen waren, in der großzügigen Wartehalle des Bahnhofsgebäudes ein Ticket für diese letzte Fahrt zu lösen und zuzusteigen.

Der gut gefüllte Zug fuhr ab. Nächster Halt: Neu Büddenstedt. Dann Helmstedt, Frellstedt, Königslutter. Nach Verlassen des Landkreises ging es über Braunschweig nach Wolfenbüttel bis hinter Schöppenstedt, die Fahrt wieder in den Landkreis ging. Watenstedt als nächster Halt, Jerxheim Bahnhof, Söllingen und schließlich wieder Schöningen, wo bereits mehrere Kamerateams warteten, um die sich begegnenden Züge am Bahnhof filmerisch zu begleiten.

Kaum Fahrgäste auf der Strecke im regulären Betrieb

Das war sie also. Die letzte Fahrt am Bahnhof Schöningen. Es folgten noch einzelne Sonderfahrten, die ähnlich viel Publikum anlockten. Hätte es dieses Publikum im Regelverkehr gegeben, die Strecke hätte wohl – zumindest auf dem Abschnitt Schöningen-Schöppenstedt – nicht zur Disposition gestanden. Die geringen Fahrgastzahlen – knapp über 200 pro Tag – waren es nämlich, die Seitens der Deutschen Bahn dafür sorgten, die Strecke aufzugeben. Die somit eingesparten Mittel sollten für Investitionen in die Regionalstadtbahn zwischen Braunschweig und Schöppenstedt fließen. Durch den geplanten Abbau des Kohlepfeilers im Schöninger Südfeld war zudem klar, dass eine Verbindung zwischen Schöningen und Büddenstedt nicht mehr realisierbar wäre – wodurch lediglich der Streckenabschnitt bis Schöppenstedt hätte „gerettet“ werden können.

Bei den Menschen in der Region stieß die Schließung der Strecke auf gemischte Gefühle. In der Samtgemeinde Heeseberg wurde sie eher begrüßt, da viele der Mitgliedsgemeinden in der Samtgemeinde – zum Beispiel Ingeleben, Wobeck, Beierstedt, Twieflingen sowie Jerxheim (Ort) ohnehin keine Bahnanbindung hatten und als Kompensation eine bessere Busverbindung angestrebt wurde. In Schöningen indes war es indes keinesfalls nur der Wegfall der Strecke selbst, sondern der „Verlust“ des eigenen Bahnhofes. Als Bahnhof ohne eigentlichen Nutzen, war es nämlich an der Bahn, selbigen aufzugeben. Der Anfang vom Ende hatte begonnen, wenngleich die Pläne, die Strecke eventuell in ferner Zukunft einmal wiederzubeleben, nie gänzlich aufgegeben wurden (mehr im zweiten Teil dieses Textes).

Ein großer Bahnhof in der kleinen Stadt

Einst war der Bahnhof für Schöningen nicht nur Prachtbau, sondern auch Knotenpunkt für den Nah- und Fernverkehr. Selbst die Ortsteile waren mit eigenen kleinen Bahnhöfen gewissermaßen an die Kernstadt angekoppelt, was noch heute zum Beispiel durch Straßennamen sichtbar ist. Vier größere Bahnstrecken kreuzten zu Hochzeiten in Schöningen: Jerxheim-Helmstedt, Oschersleben-Schöningen, Eilsleben-Schöningen und Braunschweig-Schöningen. Die Erstgenannte war dabei die Einzige, die noch lange nach dem Kriegsende Bestand haben sollte – während die Verbindungen nach Oschersleben und Eilsleben durch die Grenze unterbrochen waren, war die Braunschweig-Verbindung durch den Wegfall der beiden anderen Verbindungen unrentabel geworden. Auch Esbeck war an das Schienennetz angebunden. Ein Schienenbus verkehrte dort, bis der Tagebau für das Aus der Strecke sorgte.

Alles in allem war der Schöninger Bahnhof also das Herzstück des Verkehrs in der Stadt, vor allem zu Zeiten, als das Auto noch keine Rolle spielte. Dementsprechend groß dimensioniert war die Anlage. Über ein Dutzend Gleise lagen hinter dem Bahnhofsgebäude mit seinen Nebengebäuden in Richtung der heutigen Gabelsberger Straße. Dazwischen und nebendran: Lagerhallen, Schuppen und mehr. Der Bahnhof selbst bestand aus drei Teilen: dem heute noch erhaltenen Hauptgebäude sowie einem Nebengebäude das als ehemalige Gepäckabfertigung heute ebenfalls noch erhalten ist. Ein dritter Gebäudeteil, der linker Hand des Hauptgebäudes befindlich war, wich schon vor mehreren Jahrzehnten. Heute steht an dieser Stelle ein Wohnhaus. Gegenüber des Bahnhofes, auf der anderen Straßenseite der Fabrikstraße, befand sich ein weiteres, zum Bahnhof gehöriges Gebäude, das zu Beginn der 1990er-Jahre abgerissen wurde.

Ein großer Gebäudekomplex war es also, der von innen kein Stück weniger beeindruckend war: das Hauptgebäude war zweigeteilt – im linken Bereich befanden sich einst Fremdenzimmer und Wohnungen für Bahnbeamte, was anhand der heutigen Gebäudestruktur auch nach wie vor gut zu erkennen ist. Der rechte Bereich führte zunächst über eine dreistufige Treppe hinein in die große Empfangshalle. Zur Rechten gab es dort eine kleine Tür, die zur Gepäckabfertigung führte, direkt gerade zu befand sich der Fahrkarten-Schalter. Linker Hand führte ein kleiner Gang gesäumt von verschiedenen Automaten zu den Bahngleisen. Von diesem Gang führten zwei weitere Türen ab: eine davon in ein großzügiges Wartezimmer, die andere in den Bereich, in dem sich einst die Bahnhofsgastronomie befand. Wie elegant dies einst gewesen sein muss, lässt sich heute nur noch erahnen – ein großer hölzerner Tresen ist noch immer erhalten, den Rest hat der Zahn der Zeit verschlungen.

Langsamer Verfall über ein Jahrzehnt hinweg

Mehrere tausend Fahrgäste passierten diese Gebäude vor 100 Jahren noch jeden Tag – auch mangels verkehrlicher Alternativen. Auch der Güterverkehr rollte im Schöninger Bahnhof ein und aus und sorgte vor allem in Richtung Jerxheim für eine Bespielung eines der größten Bahnhöfe seiner Zeit. Dem „Drehkreuz des Nordens“ in Jerxheim Bahnhof, für den vor rund einem Jahrhundert ein vorläufiger Endausbau mit 32 Gleisen geplant war. Krieg und Kohleabbau, aber auch die zunehmende persönliche Mobilität sorgten schließlich dafür, dass nach und nach die Strecken wegfielen. Bis 2007 schließlich das Ende erreicht war.

Nachdem die letzte Strecke still gelegt war, folgte der Verfall. Zuerst eroberten sich Büsche und Sträucher die Bahnstrecke zurück. Brombeeren überwucherten die Gleise, während nicht benötigte Anlagen nach und nach zurück gebaut wurden. Lediglich die Gleise und das Gleisbett blieben bis heute erhalten – so sie denn nicht mutwillig zerstört oder gar geklaut wurden, oder durch mangelnde Pflege der Natur anheim fielen. Während die Bahnhöfe in Söllingen (eigentlich schon vor der Stilllegung der Strecke) und Watenstedt sowie auch Jerxheim Bahnhof vergleichsweise schnell einen neuen Nutzen – zumeist als Wohnhaus – fanden, ereilte den Schöninger Bahnhof ein ähnliches Schicksal, wie die Bahnstrecke selbst. Der Verfall hielt Einzug.

Zuerst war es vor allem Vandalismus, den das Gebäude zu spüren bekam, das über die Jahre mehrfach seinen Besitzer wechselte. Manch einer davon kümmerten selbst die zerschlagenen Fensterscheiben wenig, bis schließlich damit begonnen wurde, die Fenster und Türen zuzumauern, um der Zerstörung Einhalt zu gebieten. Doch war es keineswegs nur wilde Zerstörungswut von jüngeren Menschen, auch Sammler von Bahnhofsraritäten hinterließen ihre Spuren, als sie sich die „besten Reste sicherten“. Nein, auch Wind und Wetter ließen das Gebäude nicht unbeindruckt: ohne Beheizung mit zerschlagenen Scheiben konnte immer wieder Nässe eindringen, ein oder mehrere Stürme hinterließen große Schäden am Dach, für die sich niemand Zuständig fühlte. Somit war dem Regen freie Bahn geboten – die Nässe drang von oben vor und sorgte dafür, dass Teile des ehemaligen Turmes in das Gebäude hinein stürtzten.

Als wäre all dies nicht genug, kam es auch zweimal zu größeren Wassereinbrüchen „von unten“. In einem Winter sorgte zum Beispiel ein Wasserrohrbruch im Keller dafür, das über Tage – oder sogar Wochen – unbemerkt Wasser in den großen Keller unter dem linken Teil des Hauptgebäudes floss. Selbst nachdem das Wasser sich schon seine Bahn in den Kellereingang gebahnt hatte, war noch nichts unternommen. Die Behebung des Problems gestaltete sich, mitten im Winter, zudem als schwierig: der Keller war voll, das Absperrventil im Gebäude nicht zu erreichen und auch das Sperrventil für den Straßenbereich musste erst gesucht werden. Schließlich wurde der Keller ausgepumpt, „trocken“ gelegt wurde er aber über all die Jahre hinweg nicht, was ebenso an der Substanz nagte.

Der Verfall setzte sich fort. Bis ins Jahr 2019, als der Bahnhof abermals einen neuen Käufer fand.

Mehr über diesen Käufer, seine bisherige Arbeit am Gebäude, seine Pläne und eine mögliche Zukunft des Schöninger Bahnhofes gibt es im zweiten Teil dieses Textes ab Sonntag, 27. Oktober 2019, zu lesen.

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Nico Jäkel, geboren 1981 in Helmstedt, ist ausgebildeter Redakteur, selbstständiger Fotograf und ein leidenschaftlicher Hobbykoch mit einer gigantischen Sammlung an Kochbüchern. Seine Markenzeichen sind verschachtelte Sätze. Zusätzlich zu seinem Faible für Produkttestungen, engagiert sich der Lokalpatriot in seiner Heimatstadt Schöningen.