Erster Teil (erschienen am 2. Juli 2023): Was war, was ist und was möglicherweise werden wir

„Strukturwandel“ ist ein Schlagwort, das seit rund einem Jahrzehnt in das ständige Vokabular der Berichterstattung über den Landkreis Helmstedt Einzug gehalten hat. Es war der Zeitpunkt, als die Menschen vor Ort erkannten, dass das Ende des Bergbaus, der über 100 Jahre lang den Landkreis geprägt hatte, gekommen war. Doch genau dieser Satz birgt eigentlich schon eine andere Erkenntnis inne: Was gab es denn davor? Vor den Tagebauen und den gigantischen -Schaufelradbaggern, vor den Kraftwerken? Natürlich etwas anderes. Schon damals hat es einen Strukturwandel gegeben und zwar in Richtung Industrialisierung, der den Landkreis Helmstedt nachhaltig verändert hat, dessen Spuren allerdings an vielen Stellen bereits wieder verwaschen sind.

Der Wandel der Wirtschaft im Verlauf der Zeit, auch vor dem Hintergrund möglicher zukünftiger Entwicklungen, ist das Monatsthema im Juli im Helmstedter Sonntag.

Großindustrie im ländlich geprägten Raum

In den 1950er Jahren beschäftigten die Braunschweigischen Kohlenbergwerke (BKB) rund 7.000 Mitarbeiter. Eine aus heutiger Sicht gigantische Zahl. Große Arbeitgeber wie das AWO-Psychiatriezentrum (APZ) in Königslutter bringen es auf immerhin 1.300, kommen aber bei Weitem nicht an die Zahlen der Bergbauindustrie aus dem vorigen Jahrhundert heran.

Dennoch zeigt es, dass ein Wandel passiert, Menschen sich andere Berufe suchen oder manchmal auch andere Berufe neu entstehen, für die es damals keinen Bedarf gab. Anders herum brachte die -Industrialisierung zuvor tausende neue Jobs in die Region, die zuvor durch neue Maschinen in der Landwirtschaft weggefallen war. Überhaupt wandelte sich die Landwirtschaft im Verlauf der Jahrhunderte auf ebenso vielfältige Art und Weise selbst. Höfe wurden zunächst kleiner – durch Erbfolge zum Beispiel, dann wieder größer, im Nachbarlandkreis zu Zeiten der DDR sogar riesig.

Wie kann die Wirtschaft in Zukunft aussehen?

Ein Blick in die Glaskugel zu werfen, ist schwierig. Im Rahmen des Monatsthemas sollen aber zwei Punkte betrachtet werden die zumindest einen Anhaltspunkt liefern können. Zum einen, die Bestrebungen der aktuellen Förder- und Forschungsmaßnahmen, zum Beispiel im Kontext von (digitalem) Ackerbau oder Wasserstoff. Auf der anderen Seite stehen inhaltliche Ideen, wie sie Zukunftsforscher Dr. Eberl im Rahmen der Helmstedter Kinder- und Jugenduni vorgestellt hatte.


Zweiter Teil (erschienen am 9. Juli 2023): Im Zeitraffer von der Antike zur Wende

Betrachtet man Funde, wie die Speere bei Schöningen oder die bronzezeitlichen Siedlungen, die sich verstreut über den Landkreis befinden, kommt man unweigerlich zum Schluss: Irgendwie war hier schon immer was los. Allerdings ist es deutlich schwieriger richtig zu belegen, was genau damals „los war“.

Das, was sich nachvollziehen lässt, fand dabei „kurz“ nach der Antike im achten Jahrhundert statt, zum Beispiel mit der -ersten urkundlichen Erwähnung Schöningens. Die Stadt nämlich hatte, gemeinsam mit der parallel erwähnten Gemeinde Ohrum, Königshof, also zumindest politisch, mit großer Wahrscheinlichkeit ebenso wirtschaftlich, großes Potenzial.

Ähnlich historisch wird es bei der Betrachtung der Stadt Königslutter und der Gemeinde Süpplingenburg mit sogar kaiserlicher Geschichte.

Viele Befestigungen – gerade am oder im Elm – aus diesen frühen Jahren zeugen davon, dass seinerzeit auch ein reger Handel getrieben wurde. Die Schunter wiederum – wobei unklar ist, bis wie weit in den Landkreis hinein – war eine Zeit lang eine nicht unwichtige Transportroute. Diese Zeit war dominiert von Handwerkern in unterschiedlichsten Gewerken und natürlich der Landwirtschaft. Letztere war, ähnlich wie heute, damals schon anders im Norden und Süden des Landkreises, bedingt natürlich durch die Qualität der Böden. Diese Prägung der Landwirtschaft hielt für Jahrhunderte an, führte sogar zu „Spitznamen“ für Orte wie „Botterbarmke“ (Butterbarmke), eben wegen der Milch.

Die Bildung spielte eine große Rolle

Den nächsten, bis heute spürbaren Aufschwung, erhielt die Region etwa im 15. Jahrhundert. Zeichen dieser Zeit sind in praktisch allen Kommunen zu sehen, besonders prägend aber war diese Zeit in Helmstedt selbst. Die Stadt nämlich gehörte einer der wohl mächtigsten wirtschaftlichen Institutionen bis weit über die Grenzen Deutschlands hinaus an: der Hanse.

Wenngleich das Handwerk nach wie vor eine große Rolle in der Kreisstadt spielte, zeigte das jedoch die Bedeutung Helmstedts für den überregionalen Handel.

Der wurde unter anderem befeuert durch besondere Güter wie das Salz, das seit dem achten Jahrhundert in Schöningen gefördert wurde, sowie durch viele Agrar- und Handwerksprodukte. Erwähnenswert unter den Letzteren waren zum Beispiel die „Gropen“, irdene Kochtöpfe, die in Töpfereien – der ton- und lehmhaltigen Erde sei Dank – hergestellt wurden. Diesem Handwerk verdankt eine der ältesten Straßen Helmstedts, der Gröpern, seinen Namen. Vor dem eigentlichen Ort gelegen waren dort nämlich viele -Töpfereien ansässig, die aufgrund der Brandgefahr ausgelagert waren.

Aus dieser Zeit erwuchsen nicht nur materielle Reichtümer, sondern auch die höhere Bildung zog in den Landkreis ein. Das in Helmstedt schon lange exis-tierende Gymnasium Julianum erhielt in Schöningen mit dem Gymnasium Anna-Sophianeum eine kleine Schwester, während der große Bruder, die Helmstedter Universität, schon seinen Betrieb aufgenommen hatte.

Die Industrialisierung brachte Reichtum mit sich

Das alles legte den Grundstein für die rund 150 Jahre später einsetzende Industrialisierung, die im Landkreis Helmstedt auf mannigfaltige Art und Weise zu spüren war.

Eisenbahnstrecken wurden gebaut, der Bergbau, zunächst in der Tiefe, lief zu Hochform auf, praktisch überall schossen Fabriken aus dem Boden. Wirklich überall? Nicht ganz… Denn der größte Bodenschatz, die Kohle, brachte die Wirtschaft vor allem in den Anrainerkommunen in Schwung, während sich im Norden des Landkreises die Industrie eher in Richtung Braunschweig konzentrierte – Wolfsburg spielte dabei zunächst noch keine Rolle.

Während das erwähnte „Botterbarmke“ in diesem Zuge praktisch in Vergessenheit geriet, wuchs dafür in der Kreisstadt eine Margarinefabrik heran, Prunkbauten vergangener Jahrhunderte wurden plötzlich zu Firmenzentralen oder gar vom Handel genutzt – wie in einem fast drastischen (späteren) Beispiel der ehemalige Standort des Gymnasiums Schöningen. Dort war unter anderem ein Teppichhändler eingezogen, bevor das Gebäude, in dem zuvor die Grundschule zuhause war, als Museum genutzt wurde.

Den wirtschaftlichen Höhepunkt erreichte der Landkreis Helmstedt in den drei Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Braunschweigischen Kohlen-Bergwerke (BKB) als unangefochtener Arbeitgeber Nummer eins, mit zeitweise über 15.000 Beschäftigten standen in direkter Arbeitnehmerkonkurrenz zum sich entwickelnden VW-Werk in Wolfsburg. Ebenso die Industrie, die damit in Verbindung stand, blühte auf, verlegte Standorte in den Landkreis, wie zum Beispiel die damals schon in der wirtschaftlichen Bundesliga spielende Firma Siemens. Durch diese Entwicklung befeuert, entsprangen auch viele Innovationen den Betrieben in der Region – Milch-Tankwagen zum Beispiel, die zum Teil noch heute nach dem ursprünglichen Konzept gebaut, auf deutschen Straßen zu sehen sind.

Um einmal mehr den Kontext der Landwirtschaft zu zeigen: Dort fand die industrielle Revolution statt. Dampfpflüge waren längst abgelöst durch Traktoren und ein Unternehmen, das durch den Mauerbau von seiner Heimat getrennt war, begann in Söllingen mit dem Aufstieg zum Global Player der Saatzucht.

Das wiederum und die allgemein gute landwirtschaftliche Ertragslage erwiesen sich als guter Nährboden für den Landhandel und vor allem die -Zuckergewinnung.

Offleben, Königslutter, Watenstedt und Söllingen waren nur einige der Orte mit einer Zu-ckerfabrik, während die gigantischen Silos der Landhandel-Unternehmen an den Bahnstre-cken entlang wie Pilze aus dem Boden schossen.

Um all diese neuen Fabriken und Wohnungen für die Mitarbeiter entstehen zu lassen, wurden andere Rohstoffe benötigt.

Nicht alles konnte mit Elmkalkstein gebaut werden, Ton erhielt nach seinem Ruhmeszug in der Küche als Baumaterial ein neues Leben. Kalk wurde gewinnbringend eingesetzt, denn ohne den war an modernen Beton nicht zu denken.

Der Arbeitskräftemangel, kein neues Phänomen

Kurzum: Zwischen den 1950er und 1970er Jahren gab es eine Situation, die – zwar aus völlig anderen Gründen – ähnlich war wie heute. Es herrschte ein Arbeitskräftemangel. Die Lösung dafür suchten Regierung und Unternehmen im Ausland, wurden überwiegend in der Türkei, in Griechenland und vor allem Italien fündig. Besonders spürbar war diese Entwicklung in Wolfsburg, da ab den 1960er Jahren der Personalbedarf der BKB wieder ein wenig schwand, aber genauso im Landkreis Helmstedt waren plötzlich erfreulich viele neue Gesichter zunächst zu Gast.

Nicht wenige davon allerdings blieben, bescherten der Region die ersten Pizzarien, griechische Restaurants und nicht zuletzt türkische Imbisse.

Wenn Menschen Arbeit und Geld haben, haben sie das Bedürfnis, sich Dinge zu kaufen.

Die komfortable Situation brachte somit zudem einen Segen für den Handel. Die Zeit der Kaufhäuser war angebrochen, die Innenstädte waren mit einem aus heutiger Sicht unvorstellbaren Angebot an Waren und Dienstleistungen bestückt.

Doch ein Wendepunkt sollte bevorstehen.

Und der kam zwar nicht „mit der Wende“, aber unglücklicherweise zur gleichen Zeit.


Dritter Teil (erschienen am 16. Juli 2023): Umbruch kurz vor der Jahrtausendwende

Im Rahmen des Monatsthemas war ein schneller Ritt durch die Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung des Landkreises Helmstedt zu lesen, bei der es, mit kleineren und größeren Rückschlägen, im Kern stets bergauf ging. Ein „Knacks“ in dieser Kurve, der vielen Menschen noch präsent sein dürfte, war die Zeit rund um die deutsche Wiedervereinigung. Letztere trug – das wird sich später zeigen – mit ihren Randerscheinungen dazu bei, ist aber alles andere als der alleinige Auslöser.

Die 1980er Jahre: ein echter Wendepunkt

Während in früheren Jahren zwar viel „Handarbeit“ durch neue Erfindungen ersetzt wurde, kam in den 1980er-Jahren der große Durchbruch des Computers und damit eine Veränderung, ebenso im Landkreis Helmstedt, die es so zuvor nie gegeben hatte. Das Wort „Computer“ ist dabei natürlich nicht allein bezogen auf das Gerät mit Bildschirm, Tastatur und Maus, sondern vielmehr auf die Automatisierung unzähliger Arbeitsprozesse durch Mikroelektronik. Das begann bei Kassensystemen, setzte sich in Fabriken und schließlich in Büros und Verwaltungen fort.

Inmitten dieses Wandels, der dafür sorgte, dass weniger Arbeitskräfte benötigt wurden, tauchte ein neues Credo der Stadtentwicklung auf. Dem Vorbild der großen Städte folgend, wurde im Landkreis Helmstedt auf Komfort für die Bürger gesetzt. Schon Ende der 1970er-Jahre entstanden, meist in Ortsrandlagen, die ersten Supermärkte. Das war nur möglich durch die vorangegangene technische Entwicklung. Parallel dazu galt das Idealbild einer verkehrsberuhigten Innenstadt, die zum Bummeln einlädt. Der Wohlstand, den sich die Menschen erarbeitet hatten, sollte in Schlendermanier ausgegeben werden können.

In dieser Parallelentwicklung gingen die Supermärkte und später die Discounter als Gewinner hervor. Mit ihrem breiten Angebot, das in aller Regel Artikel bereit hielt, die bisher nur in einzelnen Geschäften in der Innenstadt zu finden waren, stellten sie eine nicht unerhebliche Konkurrenz zur City dar. Vor allem deshalb, weil die Menschen dort direkt vor der Tür parken konnten, in der verkehrsberuhigten Innenstadt aber nicht mehr.

Keine Nachfolger, keine Zukunft

Eine weitere, nicht zu vernachlässigende Entwicklung war ein spürbarer Rückgang der Geburten. Während dies zwar einerseits den Entwicklungen am Arbeitsmarkt entgegen kam – es waren plötzlich mehr Menschen da als Arbeit – war dies für viele  inhabergeführte Geschäfte ein perspektivisches Problem, das so erst spät realisiert wurde.

Die eigenen Kinder, die nämlich das Geschäft hätten eventuell weiterführen können, mussten nicht selten ihre Ausbildung fernab der Heimat absolvieren und blieben häufig dort. Eine Rückkehr und Übernahme des kleinen Familienunternehmens war in den meisten Fällen keine Perspektive.

Somit setzte ein sich in Richtung 1990er-Jahre beschleunigender Wandel ein. Inhabergeführte Geschäfte schlossen, an ihre Stelle traten Filialbetriebe, manchmal größere Ketten, ebenso häufig aber eher „Kurzlebiges“, das einem bestimmten Trend folgte.

Zum Ende der 1980er Jahre hatten sodann der boomende Versandhandel und parallel die Supermärkte den Kaufhäusern  das Leben hart genug gemacht, dass diese mit einem Überlebenskampf beginnen mussten.

Die Wiedervereinigung

Inmitten dieser wechselhaften Zeit fiel ein Ereignis, das das Gesicht der damals noch geteilten Bundesrepublik für immer verändern sollte.

Der Landkreis Helmstedt war durch die Wiedervereinigung plötzlich nicht mehr „irgendwo am Rand von Deutschland“, sondern „mittendrin“.

Das war auf zweierlei Ebenen mit unterschiedlicher Ausprägung zu spüren.

Einerseits erlebte der stationäre Handel einen gewaltigen Schub. Die Innenstädte – egal ob in Schöningen, Königlutter oder Helmstedt – waren über Monate hinweg mit Menschen so gefüllt wie zuvor ein ganzes Jahrzehnt lang nicht. Kaufhäuser sowie kleine Händler standen zumindest für eine kurze Zeit in einer waschechten Goldgrube, in der das Problem nicht war, Waren los zu werden, sondern Nachschub zu bekommen.

Die später abebbenden Kundenströme stellten dann all diejenigen auf die Probe, die diese Zeit genutzt hatten, um überproportional zu wachsen.

Eine noch viel tiefgreifendere Entwicklung, die mehr als den Handel die Industrie betraf, war der Wegfall der bisherigen „Zonenrandförderung“. Mehr noch, es setzte sogar ein Fördergefälle ein, das direkt an der ehemaligen Zonengrenze zu einer nicht unbeachtlichen Abwanderungswelle führte. Große Betriebe, wie zum Beispiel die Helmstedter Firma Schuberth, die Helme herstellte, wechselten nach Sachsen-Anhalt.

Wieder andere Betriebe, die im Landkreis Zweigstellen hatten, schlossen die Standorte entweder über eine generelle Konsolidierung ihrer Unternehmen oder durch Umzug zu lukrativeren Standorten.

Strukturwandel in nur eine Richtung

Der Wegfall eben jener wichtigen Gewerbesteuerzahler war für den Landkreis Helmstedt und seine Kommunen ein herber Schlag.

Aus zuvor schwarzen Zahlen der Haushalte wurden rote, sodass für neue, zukunftsträchtige Maßnahmen zur Ansiedlung von Unternehmen kaum oder gar kein Geld mehr vorhanden war. Das nämlich benötigte man, um die vorhandenen Strukturen zu erhalten, also eine weitere Abwanderung zu verhindern.

Als in den 1990er-Jahren langsam aber sicher klar war, dass die Kohle, die man über 100 Jahre abgebaut hatte, in absehbarer Zeit enden würde, setzte sich die Drehung der Spirale der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit fort – und zwar in Richtung „unten“.

Für den Arbeitsmarkt selbst war das ebenfalls direkt spürbar, noch viel dramatischer aber war die soziale Schere, die sich offenbarte. Wer einen „sicheren“ Job in der Großstadt hatte, war plötzlich in einer deutlich besseren Situation als jene, die vor Ort zum Teil im Überlebenskampf ihrer Unternehmen streiten mussten. Die Abwanderung junger Menschen aus der Region nahm dadurch bedingt einen neuen Anschub.

Der „Tiefpunkt“ schien allerdings erst Jahrzehnte später erreicht – im Jetzt. Mit dem Stichwort „Strukturwandel“ wurde einem neuen Aufbruch ein neuer Slogan verpasst. Nun, da man auf praktisch allen Ebenen erkannt hat, dass es „weiter so“ nicht funktionieren kann, werden hoffentlich  Weichen für eine gute Zukunft gestellt.


Vierter Teil (erschienen am 23. Juli 2023): Tiefrote Haushalte – doch Licht am Horizont

Dass die wirtschaftliche Entwicklung im Landkreis Helmstedt von einem steten Auf und Ab geprägt war, haben die vergangenen Teile des Monatsthemas im HELMSTEDTER SONNTAG für den Monat Juli gezeigt. Angekommen, im „Heute“ stellt sich die Lage – anders als in den Jahrhunderten zuvor – allerdings deutlich anders dar. Die -Industrie ist weitestgehend weiter gezogen, der Bergbau, abgesehen vom Salz, zu seinem Ende gekommen.

Selbst eine der einst reichsten Gemeinden der Republik (bezogen auf die Einwohnerzahl), Büddenstedt, blickte seit Beginn der 2000er Jahre auf immer schwierigere Zahlen beim Haushalt, die schließlich ins Rote kippten.

Nicht anders in nahezu allen weiteren Städten und Gemeinden des Landkreises südlich der Autobahn 2, einschließlich der Stadt Königslutter.

Lediglich im Norden, in den Gemeinden Lehre und der Samtgemeinde Velpke, trat ab den 2000ern eine entgegengesetzte Entwicklung ein. Zwar war es dort kein gigantischer wirtschaftlicher Aufschwung, der dafür sorgte, aber die Nähe zu den Oberzentren Wolfsburg und Braunschweig machte sich bemerkbar.

Als Wohnstandorte waren beide sehr gefragt, der Zuwachs führte zu einer kontinuierlichen Entwicklung. Mit der Ausweisung neuer Gewerbegebiete folgten Arbeitsplätze und wirtschaftliches Wachstum, sodass das Bild des Landkreises mit Blick auf die Wirtschaftsleistung und die Situation in den kommunalen Haushalten sich umgekehrt hatte. Der einst „reiche“ Süden hatte sprichwörtlich „keine Kohle“ mehr.

Stabilisierungshilfen und Kohlemillionen: Viel Geld von Land und Bund

Um gegen die hilflos überschuldeten Haushalte anzukämpfen, unterstützte das Land die Kommunen und den Landkreis Helmstedt selbst mit einer Stabilisierungshilfe, in Form einer Vereinbarung. Wenn sich die Kommunen bereit erklärten, bestimmte Sparanstrengungen vorzunehmen, würde ein Großteil der Schulden übernommen. Diese Vereinbarung gingen die betroffenen Gebietskörperschaften ein und verpflichteten sich zum Sparen. Für Büddenstedt ging das noch einen Schritt weiter – die Gemeinde fusionierte mit der Stadt Helmstedt und beide erhielten vom Land eine „Hochzeitsprämie“, die dazu führte, dass der Helmstedter Haushalt eine vergleichsweise gute Basis zur Konsolidierung hatte.

Das wiederum eröffnete neue Möglichkeiten für Investitionen, wie zum Beispiel die Erschließung eines neuen Gewerbegebietes bei Barmke.

Die ehemalige Firma BKB wiederum war inzwischen aufgeteilt – zu den größten Teilen in Helmstedter Revier GmbH und Energy from Waste GmbH, von denen letztere die Müllverbrennungsanlage übernommen hatte  – und einen steilen Aufschwung nahm. Nach einer ersten Erweiterung folgte nämlich in vergleichsweise kurzer Zeit die -erste Klärschlamm-Monoverbrennungsanlage. Der erste große Schritt für den Strukturwandel im Herzen des ehemaligen Reviers.

Auch in den Städten und Kommunen folgte ein Wandel: Mehr Gemeinsamkeit in vielerlei Belangen sollte es geben, um die eigene Position zu stärken. Ein Ausfluss davon war die Wirtschaftsregion Helmstedt GmbH, die erstmals eine gemeinsame Wirtschaftsförderung etablieren sollte – und, einen weiteren sehr reizvollen Fördertopf, die „Kohlemillionen“, die ehemalige Bergbauregionen zur Bewältigung des Strukturwandels zugesprochen bekommen haben, verwalten soll.

Alles auf null? Die Zukunft kann beginnnen

Inmitten dieses Zustandes befinden wir uns nun, einer Situation, die vor allem für die kommunalen Haushalte nach wie vor angespannt ist, aber ebenfalls für die Wirtschaft viele Hürden bereit hält. Einerseits nämlich ist im Landkreis Helmstedt der Fachkräftemangel ausgeprägt – nicht zuletzt deshalb, weil die Oberzentren viele Arbeitskräfte abziehen. Andererseits hat die Corona-Pandemie und die fortgeschrittene Inflation im vergangenen Jahr in der wirtschaftlichen Landschaft des Landkreises tiefe Spuren hinterlassen. Doch nicht nur Negatives gab es zu vermelden. Kreisweit steht der Glasfaser-Ausbau zum Beispiel auf einem guten Kurs und ermöglicht ganz neue digitale Angebote. Ebenso sind die Planungen für das Industriegebiet bei Buschhaus weiter vorangeschritten und eine Machbarkeitsstudie zu einem gemeinsamen Gewerbegebiet mit Braunschweig und Wolfsburg an der Autobahn 2/39 ist in Arbeit.

Eine gute Voraussetzung, um in eine neue Richtung voranzuschreiten.


Fünfter Teil (erschienen am 30. Juli 2023): Was die wirtschaftliche Zukunft bringen kann

Wohin wird es mit der wirtschaftlichen Entwicklung im Landkreis Helmstedt gehen? Während die vorherigen Teile des Monatsthemas im HELMSTEDTER SONNTAG für den Monat Juli gezeigt haben, was war  und was ist, soll nun ein vorsichtiger Blick in die Glaskugel geworfen werden. Natürlich nicht, ohne sich all derer Entwicklungen zu verschließen, die bereits angestoßen worden sind.

Im Norden hängt vieles von Wolfsburg ab

Die positive Entwicklung in der Samtgemeinde Velpke und der Gemeinde Lehre hängt nicht zuletzt mit dem über Jahrzehnte als Garant für wirtschaftlichen Erfolg stehenden Volkswagen-Konzern in Wolfsburg ab. Doch auch Braunschweig spielt als weiteres Oberzentrum keine unwichtige Rolle. Ein Projekt, dass sich in der Realisierung befindet, ist der zweigleisige Ausbau der Weddeler Schleife, der vor allem Vorteile für den Güterverkehr, natürlich aber ebenso den Personennahverkehr mit sich bringt.

Im Zuge einer für diesen Bereich des Landkreises angestoßenen Machbarkeitsstudie, die ein Gewerbegebiet am Autobahnkreuz A2/A39 untersuchen soll, könnte die Schiene eine ganz neue Rolle im nördlichen Landkreis Helmstedt einnehmen.

Nicht aus den Augen verloren werden darf dabei das bereits genannte VW-Werk. Ein Großteil des Güterverkehres in und um Wolfsburg entsteht durch den Konzern und die vielfältigen Zuliefererfirmen. Entwickelt sich der Autobauer so gut, wie in der Vergangenheit, steht auch einem Aufschwung im nördlichen Landkreis Helmstedt nichts entgegen.

Ein weiterer möglicher Zukunftsblick könnte sich in diesem Bereich ebenfalls im Kontext der Mobilität ergeben. Im Rahmen des Projektes HyExpert für die Region SüdOstNiedersachsen an dem der Landkreis Helmstedt gemeinsam mit Braunschweig, Wolfsburg und weiteren Akteuren unter Führung der Allianz für die Region feilt, könnte entlang einer der neuralgischen Verkehrsachsen eine Wasserstoff-Tankstelle entstehen.

Von der Kohle hin zu grünem Wasserstoff?

Wasserstoff, genaugenommen „grüner“, also nachhaltig erzeugter Wasserstoff, ist ein weiteres Themenfeld, das den Landkreis Helmstedt in Zukunft mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung beschäftigen könnte.

Das zentrale Augenmerk liegt dafür natürlich auf dem -Industriegebiet Buschhaus, das nicht nur dadurch, dass es überhaupt ein Industriegebiet ist, punktet. Vielmehr bringt der Standort noch weitere Vorzüge mit, die der früheren Nutzung zur Energieerzeugung durch das ehemalige Kraftwerk zu verdanken sind. Auch die Thermische Restmüllverwertungsanlage (TRV), von der EEW Energy from Waste GmbH betrieben, könnte sich dafür als hervorragender Partner anbieten, zumal sowohl für die „normale“, als auch die Klärschlammverbrennung eine CO2-Abscheidung denkbar wäre. Letzteres wird nämlich für E-Fuels benötigt, das zusammen mit dem per Elektrolyse gewonnenen Wasserstoff in die synthetischen Kraftstoffe umgewandelt wird.

Genau dafür ist die Infrastruktur hervorragend geeignet, da bereits im „direkten Umfeld“ schon viel Strom aus erneuerbaren Energien gewonnen wird – ohne den weder die Wasserstoff-Gewinnung, noch die Herstellung von E-Fuels in größerem Maßstab sinnvoll realisierbar wäre.

Buschhaus hält noch mehr Chancen bereit

Ein weiteres zukunftsversprechendes Produkt, das am Standort Buschhaus erzeugt werden könnte, wäre Phosphor. Die Rückgewinnung des vor allem für den Agrarsektor wichtigen Rohstoffes aus Klärschlämmen ist nach wie vor ein mögliches Ziel für die Zukunft. Noch in etwas weiterer Ferne, aber nicht völlig undenkbar, geht es ebenfalls um das Thema Recycling: Batterien, beziehungsweise Akkus, könnten in einer entsprechenden Anlage recycled und dabei wichtige Forschungserkenntnisse gewonnen werden.

Das alles bedarf allerdings relativ kleine Flächen, während die Folgelandschaft der ehemaligen Tagebaue schier riesig, mit Blick auf die Böden aber zum Teil problematisch ist. Dafür gibt es aber ebenfalls bereits Überlegungen: Unter Nutzung von Abwärme aus den Industrieanlagen könnten zum Beispiel „Vertikalfarmen“ günstig beheizt werden. Vertikaler Lebensmittelanbau ist nicht erst seit kurzer Zeit „in Mode“ gekommen, sondern wird – bisher meist in Ballungszentren, wo Platz für konventionelle Landwirtschaft fehlt – schon länger praktiziert. So wird, per LED beleuchtet und per Abwärme beheizt, zum Beispiel in Fabrikhallen in Regalen über mehrere Höhenmeter hinweg frisches Gemüse erzeugt. Das zumeist verwendete Hydroponik-Verfahren ist zudem sehr effizient, zugeführte Nährstoffe lassen sich perfekt dosieren, bestimmte Pestizide werden sogar überhaupt nicht gebraucht.

Städte neu denken

Wenngleich das Konzept von Vertikalfarmen zunächst etwas befremdlich klingt, ebenso, wie vielleicht Kraftstoffe „aus Sonne, Luft und Wasser“ zu gewinnen, so sind es genau solche Dinge, die den Landkreis voran bringen könnten.

Dazu gehört aber ebenso, die Städte (und Dörfer) selbst neu zu denken. Wie zum Beispiel soll dem Leerstand in der Innenstadt begegnet werden, was ist das patente Mittel im Bezug auf den demographischen Wandel?

Vor 100 Jahren noch sahen Stadtzentren zumeist so aus, dass dort Menschen in den Obergeschossen lebten. In den unteren Geschossen gab es kleine Läden. Heute fehlt nicht selten beides. Studien dazu kommen zum Ergebnis, dass eine „Rückbelebung“ durch Anwohner der ideale Schlüssel sei. Immerhin würde dadurch eine Nachfrage nach wohnortnaher Versorgung mit Waren und Dienstleistungen entstehen, die wiederum lokalen, kleinteiligen Handel -begünstigen würde. Insofern eine Rolle Rückwärts „zu damals“.

Der Schlüssel dazu, dass so etwas funktionieren kann, wurde mit dem praktisch landkreisweiten Glasfaserausbau schon gelegt. Denn Innenstädte sind meist nicht sehr „autofreundlich“ – wenn durch andere Voraussetzungen, wie zum Beispiel schnelles Internet – Arbeiten von Zuhause aus möglich ist, wird dieser Punkt schnell Realität.

Für die dörflichen Gebiete kann das ebenso ein wichtiger Punkt, gepaart mit günstigen Immobilienpreisen sein. Wenn das Wohnen in der (Groß-)Stadt unbezahlbar wird, die Arbeit „mobil“ erledigt werden kann, spricht vieles dafür, sich dort nieder zu lassen.

Und ein Zuzug junger Familien ist, wie sich in der Vergangenheit gezeigt hat, nach wie vor das allerbeste Mittel gegen den demographischen Wandel.

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Nico Jäkel, geboren 1981 in Helmstedt, ist ausgebildeter Redakteur, selbstständiger Fotograf und ein leidenschaftlicher Hobbykoch mit einer gigantischen Sammlung an Kochbüchern. Seine Markenzeichen sind verschachtelte Sätze. Zusätzlich zu seinem Faible für Produkttestungen, engagiert sich der Lokalpatriot in seiner Heimatstadt Schöningen.