Schöningen. Es ist eine dramatische Situation, die sich schon seit über zehn Jahren abzeichnet. Nachdem es zu Beginn „einzelne Einschläge“ waren, zeichnet sich der daraus resultierende Trümmerhaufen immer mehr ab. Die Rede ist von der ärztlichen Versorgung in Schöningen. Zu einem Krisengespräch hatten daher die verbleibenden vier Schöninger Hausärzte gemeinsam mit Bürgermeister Malte Schneider eingeladen.
Dabei ist es gerade einmal einige Monate her, dass mit Dr. Friederike Funk eine neue Ärztin für die Stadt gefunden werden konnte. Die Stadt selbst bleibt weiter am Ball, bietet auch finanzielle Unterstützung für neue Ärzte in der Stadt – ganz akut lässt sich aber nichts bewegen. Das bereitet auch dem Bürgermeister Sorge.

Stefan Meyer, der seine Praxis in Hoiersdorf hat, kam direkt zum Punkt: „Dr. Christians gibt seine Praxis zum 1. Juli auf. Ein Nachfolger wurde nicht gefunden. Damit sind wir künftig nur noch vier Hausärzte in der Stadt Schöningen.“ Schon im vergangenen Jahr habe es große Bedenken gegeben, wie die medizinische Versorgung in der Stadt aufrechterhalten werden könne. „Jetzt sind wir an unsere Belas­tungsgrenze gekommen“, sagt auch Dr. Wilfried Witte.

Notfälle werden behandelt

Jeder Schöninger Arzt versorge aktuell rund 1.400 bis 1.500 Patienten pro Quartal. Das seien bereits jetzt gut 50 Prozent mehr als der bundesdeutsche Kassenarzt im Durchschnitt (950 Patienten pro Quartal) behandele.
„Im Endeffekt kommen mit dem Wegfall der Praxis von Dr. Chris­tians dann 300 bis 350 Patienten auf jeden von uns zu. Das ist schlicht nicht zu leisten“, sagt Stefan Meyer.
„Natürlich werden wir versuchen, einige aufzunehmen und mit absoluter Sicherheit werden wir auch Notfälle behandeln. Bei chronischen Krankheiten ist unsere Kapazität aber erschöpft, so gerne wir auch wollen würden. Jemand, dem seine verschriebenen Medikamente ausgehen, kann schließlich in der Folge auch zum Notfall werden. Und alleine das muss uns Anliegen genug sein, das zu verhindern. Aber wir schaffen es nicht“, gibt Wilfried Witte niedergeschlagen zu. Und eine einfache „Weiterverschreibung“ ohne Begutachtung und Untersuchung des Patienten sei auch keine Option. Falls dadurch Fehler passierten, sei nicht nur ein weiterer Notfall vorprogrammiert, sondern daran hänge auch noch die Frage der Haftung, sind sich Meyer und Witte einig.
„Wir können nur an die Menschen vor Ort appellieren, Verständnis für unsere Situation zu haben. Wir hoffen auf eine Lösung, aber die Kassenärztliche Vereinigung lässt uns zur Zeit hängen“, so die Ärzte unisono.

Kein neues Thema, weder in Schöningen, noch im Landkreis

Das Thema sei natürlich nicht neu. Aber Zahlen, wie sie seit 15 Jahren von der kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN) postuliert werden, seien schlicht falsch. 2007 hatte der Geschäftsführer der KVN, Stefan Hofmann, in einem Zeitungsbericht davon gesprochen, dass in Schöningen mehrere Praxen vor dem Aus stünden mangels Patienten. Nurnoch rund 800 seien dies.
„Die Zahl hat schon damals nicht gestimmt. Und selbst wenn, dann hat sich parallel die Zahl der Hausärzte im gleichen Zeitraum halbiert“, empört sich Dr. Witte. Bürgermeister Malte Schneider pflichtet ihm bei: „Wäre die Einwohnerzahl dazu parallel entsprechend gesunken, wäre die Aussage nachvollziehbar. Seit 2012 haben wir aber gerade einmal rund 300 Einwohner verloren. Das sind nicht einmal drei Prozent.“
„Aufgrund dieser Situation haben wir ein Schreiben an die KVN geschickt, mit der Bitte uns bei der Suche nach einer Lösung zu unterstützen. Zum Beispiel durch Gründung eines Medizinischen Versorgungszentrums (MVZ) durch die KVN. Wir selbst können das nicht leisten, wir bezahlen zum Teil noch immer unsere Praxen ab und haben auch gar nicht den zeitlichen Spielraum uns intensiv genug mit dem Thema zu befassen. Ich bin Arzt und kein Kaufmann. Ich behandele Patienten. Das hat absoluten Vorrang.“
Die Antwort der KVN liest sich ungewöhnlich scharf und vorwurfsvoll. Durch mangelnde Kooperationen der Ärzteschaft in Schöningen hätte man es versäumt, eine moderne Praxisstruktur für nachwachsende Ärztegenerationen zu schaffen. Durch den allgemeinen Ärztemangel sei man zudem dazu übergangen, die Planungen seitens der KVN nicht mehr nur auf Schöningen selbst zu konzentrieren, sondern regionaler zu betrachten.

KVN sieht Handlungsbedarf bei den Kommunen

Ein von der KVN gegründetes MVZ wird indes als letztes Mittel der Wahl betrachtet, zumal die Kommunen und die Lokalpolitik ein Interesse signalisiert hätten, sich selbst des Themas anzunehmen.
Im Kern bleiben die Schöninger Ärzte rat- und machtlos zurück. „Wir haben jeden Tag sehr negative Erlebnisse mit Angst erfüllten Menschen, die nicht wissen, wie es für ihre medizinische Versorgung weiter geht. Das bekommen auch unsere Mitarbeiter täglich zu spüren“, sagt Wilfried Witte und Malte Schneider ergänzt: „Das macht aber auch nicht nur an den Arztpraxen halt, im Rathaus bekommen wir die gleichen Fragen und Anliegen zu hören. Wir als Kommune haben aber auch wenig Spielraum zum Handeln.“ Handeln könnte lediglich die Aufsichtsbehörde für die KVN. Das wäre das Gesundheitsministerium in Berlin. Nur eine solche Behörde könnte die tatsächlichen Zahlen überprüfen, zumal ab der Landesgrenze zu Sachsen-Anhalt die dortige Kassenärztliche Vereinigung zuständig sei – Patienten aber eben nicht an der ehemaligen Grenze halt machen würden.
Malte Schneider sieht aber auch ein strukturelles Problem: „Ich weiß nicht, ob es gut ist, am immernoch unglaublich hohen Numerus Clausus und der Studienplatzbegrenzung für Ärzte festzuhalten. Jedes Jahr gehen bundesweit rund 1.000 Ärzte in den Ruhestand, aufgrund der Beschränkungen kommen aber nur 500 neue pro Jahr nach. Und das seit Jahren schon. Das ist also ein absolut hausgemachtes Problem, dem man im Grunde sofort entgegen wirken muss. Und selbst dann spüren wir die positiven Aspekte erst in rund zehn Jahren.“
Dem stimmt auch Wilfried Witte zu: „Wir hatten vor gut 20 Jahren eine Ärzteschwemme. Die Regierung hat reagiert und die Modalitäten angepasst. Kurz darauf hatten wir das gegenteilige Problem aber es wurde nicht erneut nachjustiert.“

Junge Ärzte wollen heute ein anderes Leben führen, als ihre Vorgängergeneration

Das sei aber nicht alles, sagt Stefan Meyer. Ärzte wollten heute nicht mehr unbedingt eine klassische Vollzeitpraxis führen. Work-Life Balance sei nur ein Stichwort. Soziale Absicherung ein anderes. Eine eigene Praxis bedeute eben nicht nur einen hohen zeitlichen Einsatz, sondern auch ein finanzielles Risiko. Als angestellter Arzt sei das deutlich komfortabler. Man könne ebenso seinen Urlaubsantrag, wie auch den Krankenschein beim Arbeitgeber einreichen wie jeder andere beruflich Tätige auch. Zudem sei man habe man durch Sozial- und Rentenversicherung ein ganz anderes soziales Netz. Davon ab seien eben auch Halbtagsbeschäftigungen und andere Modelle denkbar. Das mache Medizin im Angestelltenverhältnis sehr attraktiv, wobei auch das kein Garant dafür sei, jede Stelle besetzen zu können. Das sehe man durchaus an den Krankenhäusern, die ebenfalls um jede Position kämpfen müssten.
Aber auch das sei noch nicht alles, ergänzt Wilfried Witte: „Es braucht auch bürokratische und rechtliche Erleichterung für junge Ärzte. Lese ich einen Rundbrief nur flüchtig, indem es um Abrechnungsmodalitäten geht, also zum Beispiel etwas über einen neuen Posten abgerechnet wird – aus dem gleichen Topf zwar, aber mit anderem Namen – so bin ich dafür verantwortlich und muss zahlen. Auch, wenn exakt die gleiche Summe abgerechnet wurde. Das sind Fallstricke, mit denen sich eigentlich niemand auseinander setzen will.“
„Alles in allem können wir aktuell also keine Lösung anbieten, da wir selbst ein Teil der Betroffenen sind. Richtig helfen kann nur die Kassenärztliche Vereinigung – und die will im Moment scheinbar nicht – und in letzter Instanz die Landes- und Bundespolitik“, schließen die Gesprächspartner die Runde.

Aktuelle Krise zeichnete sich im Frühjahr schon ab

In einer Pressemitteilung der Stadt Schöningen war schon im April Freud und Leid nah beeinander. Wörtlich hieß es: „Es fehlt an Hausärzten. Als eine von unzähligen Städten und Gemeinden im gesamten Bundesgebiet mahnt auch die Stadt Schöningen diesen Umstand seit Jahren an. Groß war daher die Freude, als im April unbürokratisch die Ansiedlung von Dr. Friederike Funk in der Niedernstraße unterstützt werden konnte. Ein Jahr lang zahlt die Stadt für die neue Praxis einen monatlichen Mietzuschuss. Eine Förderung durch den Landkreis Helmstedt im Rahmen der Richtlinie zur Förderung der Ansiedlung von Ärztinnen und Ärzten konnte die Medizinerin ebenfalls beantragen.
Dennoch ist das Problem der Unterversorgung nach wie vor prekär. In Kürze wird ein weiterer Hausarzt in Schöningen seine Praxis schließen.
Bürgermeister Malte Schneider wirbt weiter für den Standort Schöningen: „Neben der finanziellen Unterstützung bieten wir auch Hilfe bei der Suche nach den passenden Praxisräumen. Und auch als künftigen Wohnort bringen wir unsere Heimatstadt gern ins Spiel“, so Schneider weiter. Kitas, alle Schulformen, ein tolles Wohnumfeld mit vielen Freizeitaktivitäten und nicht zuletzt ein Naturpark vor der Tür – Schöningen ist der ideale Familienort.“

Mit offenen Briefen und Werbeaktionen hatte es die Stadt Schöningen auch früher schon versucht. Vergebens.

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Nico Jäkel, geboren 1981 in Helmstedt, ist ausgebildeter Redakteur, selbstständiger Fotograf und ein leidenschaftlicher Hobbykoch mit einer gigantischen Sammlung an Kochbüchern. Seine Markenzeichen sind verschachtelte Sätze. Zusätzlich zu seinem Faible für Produkttestungen, engagiert sich der Lokalpatriot in seiner Heimatstadt Schöningen.