Helmstedt. Wie viel Medienzeit ist „normal“ und sollte erlaubt sein und ab wann wird Zocken gefährlich? Eine Mutter sprach mit dem HELMSTEDTER SONNTAG und berichtet, welche Folgen Online-Spiele wie „Fort Nite“ auf ihren siebenjährigen Sohn hatten.

Wann genau Mats‘ tägliches Spielen mit der Playstation als ein Problem wahrgenommen wurde, kann Lisa (Namen von der Redaktion geändert) nicht genau sagen. Ihr Sohn gab sich im Alter von sieben Jahren bereits sehr medienaffin und verbrachte täglich bis zu einer Stunde vor dem Bildschirm. „Nicht täglich“, korrigiert die Mutter aus dem Landkreis im Nachklang, „aber eben doch regelmäßig, wenn zwischen Hausaufgaben, Vereinsaktivitäten und Verabredungen mit Freunden noch Zeit war.“
Corona änderte jedoch nicht nur die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung sowie der Betreuung sondern als Konsequenz auch die Mediennutzung und damit letztendlich auch das Verhalten des Jungen, der „plötzlich“ seine einzige sinnvolle Tagesaktivität im Onlinespiel mit Freunden und Bekannten sah.

„Ich war froh, dass er beschäftigt war. Womit, habe ich nicht hinterfragt“

„Er war patzig, wütend und hat sich zurückgezogen. Gespräche waren kaum noch möglich“, berichtet Lisa rückblickend. Dennoch habe sie das Verhalten erst auf die Einschränkungen rund um Corona geschoben – und daran war „auf die Schnelle auch nichts zu ändern“. Lisa gibt zu, dass die Zeit, in der sie selbst im Home office tätig war, sie bezüglich der Kinderbetreuung überfordert hat: „Wenn ich vormittags am Laptop arbeiten musste, war ich froh, dass er in seinem Zimmer beschäftigt war und habe nicht hinterfragt, wie lange er sich die Zeit an der Playstation vertrieben hat.“ Ein Fehler, wie die Mutter schnell einsieht. Mats wirkt zunehmend unzufriedener und scheint desinteressiert an allen anderen Vorschlägen, gemeinsam etwas zu unternehmen. Aber das auf die Mediennutzung zu schieben, schien vorerst abwegig. Lisa wusste von anderen Müttern, die von ähnlichen „problematischen“ Verhalten ihrer Kinder berichteten. Und sie alle durften und dürfen sich medial austoben. Letztendlich ließen sich Mats Eltern mit der Gewissheit, dass aus seiner Klasse alle spielten, dazu überreden, auch Online-Rollenspiele wie das generell umstrittene „Fort Nite“ zu erlauben. Und auch Handys gehören selbst in Grundschulen längst zur Grundausstattung. 

Die Medienfrage polarisiert – Medienzeit als Generationenkonflikt?

Kein anderes Thema spaltet derart die Generationen als die Frage, ob, ab welchem Alter und wie lange der Nachwuchs vor dem Fernseher, dem Tablet, der Spielkonsole oder anderen Medienendgeräten sitzen darf.
Kinder selbst haben augenscheinlich mit der Nutzung sowie mit den Geräten an sich gar kein Problem. Immerhin wachsen sie selbstverständlich in die neue digitale Welt heran und mit den sich bietenden Möglichkeiten nicht selten über die Kompetenz der Eltern hinaus.
Wäre es da nicht weltfremd, Kindern die Nutzung per se zu verbieten?
„Jein“, sagt Katrin Vosshage, Einrichtungsleiterin der Fachambulanz Helmstedt der Lukas-Werk Gesundheitsdienste, die zur Evangelischen Stiftung Neuerkerode gehören. Die Sozialarbeiterin und Sozialtherapeutin ist seit 2002 in der Suchthilfe tätig und weiß auch als Mutter um den täglichen Konflikt mit den Kindern um ein sinnvolles Maß an Medienzeit. Als Ansprechpartnerin rund um Suchtberatung bemerkt Vosshage aber auch, dass Anfragen sowie Berichte über Probleme und Verhaltensauffälligkeiten, die auf eine erhöhte Mediennutzung zurückzuführen seien, in den vergangenen Jahren kontinuierlich zugenommen haben.
Vorab kann die Suchtberaterin sagen, dass das Medium nicht alleine das Problem ist:  „Junge Menschen sind generell schneller fasziniert von den digitalen Möglichkeiten. Spiele, insbesondere Onlinespiele, die die Möglichkeit bieten, in eine anonyme Rolle zu schlüpfen, geben uns etwas, was wir uns im realen Leben nicht trauen. Auf der anderen Seite begegnen Kinder und Jugendliche den neuen Medien aber weitaus weniger kritisch, da entsprechende Erfahrungswerte schlichtweg fehlen.“

Wie viel Medienzeit ist akzeptabel und ungefährlich?

Ob daraus im uneingeschränkten Maße zwangsläufig eine Sucht entsteht, könne nicht pauschal beantwortet werden. Für die Entwicklung einer Sucht seien immer mehrere Faktoren entscheidend. Neben der Art der Medien seien die Verfügbarkeit sowie persönliche Faktoren, wie emotionaler Zustand oder auch das soziale und familiäre Umfeld ausschlaggebend. Anders als eine stoffgebundene Sucht, wie es bei der Alkoholsucht beispielsweise der Fall ist, sind die so genannten „Verhaltenssüchte“ perplexer und bedienen andere Trigger.
Beide Suchtformen ernähren sich jedoch von der Dosierung.   Wie viel genau das akzeptable Maß ausmache, darüber gibt es allerdings unterschiedliche Meinungen: Vosshage selbst spricht von 30 bis maximal 45 Minuten pro Tag für Kinder in der ersten und zweiten Klasse, andere Experten nennen als Faustformel zehn Minuten Medienzeit pro Lebensjahr am Tag oder eine Stunde pro Lebensjahr in der Woche (beide Ansätze setzen den Konsum altersgerechter Medien den Regeln voraus).
Wiederum andere halten per se nichts von festen Medienzeiten, da diese zu einer täglichen Nutzung führen und zudem dem Kind schnell den Eindruck vermitteln, etwas zu verpassen, wenn aufgrund besonderer Aktivitäten der geregelte Konsum wegfalle.

„Langeweile ist wichtig für die ntwicklung und muss auszuhalten sein“

Eltern sollten, so Vosshage, statt Verbote auszusprechen in den Dialog treten und genau hinsehen, in welchen Situationen zum Gerät gegriffen werde. „Es ist okay, mit Freunden online zu spielen“, räumt die Therapeutin ein. Wenn der Medienkonsum aber vorrangig der Stressbewältigung diene oder als Allzweckwaffe gegen Langeweile eingesetzt werde, sei Vorsicht geboten und ein ehrliches Gespräch notwendig, in dem die Eltern auch durch das veränderte Verhalten des Kindes ausgelöste Ängste zugeben dürften. „Kinder müssen alternative Wege finden, Stress abzubauen und auch Langeweile sollte und muss ein Kind aushalten können“, so Vosshage und rät betroffenen Eltern, zusammen mit dem Kind nach anderen Beschäftigungen zu suchen. Vor allem aber sollten Eltern ihre eigene Nutzung von Handy & Co kritisch hinterfragen. „Wenn ich meinem Kind eine maximale Medienzeit von 30 Minuten abverlange und selber permanent auf das Smartphone starre, verliere ich an Glaubwürdigkeit.“
Im Zweifelsfall sollte man die Reißleine ziehen und sich externe Hilfe holen, zum Beispiel auch bei der Lukas-Werk Fachambulanz Helmstedt, die eine Kooperation mit der Niedersächsischen Landesstelle für Suchtanfragen aufgebaut und das Programm „re:set“ als Beratungsangebot für exzessiven Medienkonsum mit in ihr Portfolio aufgenommen hat.

Als sich Mats selbst verletzte, war für die Mutter der Zeitpunkt gekommen, sich Hilfe zu holen

Die Eltern von Mats haben zwischenzeitlich die Reißleine gezogen. Nachdem der Junge sich selbst verletzte, suchte sich Lisa Hilfe bei der Kinderärztin, die den Kontakt zu einer psychologischen Beratungsstelle knüpfte. Als Konsequenz wurde die Verfügbarkeit von Medien auf ein absolutes Minimum heruntergefahren; die Playstation wurde komplett aus dem Haus verbannt. Insgesamt wird achtsamer miteinander umgegangen und langsam wird ein normaler Alltag in der Familie wieder möglich.
„Mir ist es wichtig, dass Eltern sich über das Risiko, welches mit der Mediennutzung verbunden ist, bewusst sind“, sagt die Mutter über die Beweggründe, ihre Geschichte öffentlich zu machen. „Es ist eben nicht normal, wenn Kinder ihre Freizeit rund um einen Bildschirm aufbauen.“

 

Hilfe gibt es bei:

Lukas-Werk Gesundheitsdienste GmbH

Fachambulanz Helmstedt, Poststraße 2, 38350 Helmstedt

Tel.: 05351/520950

www.netzwerksucht.de / www.lukas-werk.de

+ posts

Katharina Loof, geboren 1980 in Nordrhein-Westfalen, begann ihre journalistische Tätigkeit im Kölner Raum, bevor sie 2010 nach Schöningen zog. Die dreifache Mutter mag Dorf-Klüngel und Pflastersteine auf vollen Marktplätzen. Am Lokaljournalismus schätzt die Esbeckerin die Nähe zum Menschen. Die Karnevalistin tritt gerne mal zu stark auf’s Gas: sowohl im Fahrzeug als auch bei der Freigabe der Autokorrektur.