von Katharina Loof

Es ist ein herrlicher Tag und die Familie beschließt einen Ausflug mit dem Fahrrad zu machen. Der Sohn hat zum fünften Geburtstag ein neues Rad bekommen und bettelt schon lange darum, es einfahren zu können. Die Tour ist lang gewählt, aber selbst der Jüngste hält durch. Unterwegs wird ein Picknick gemacht. Bevor es auf den Rückweg geht, beschließen die Eltern spontan Freunde in der Nähe zu besuchen. Dort spielen die Kinder im Garten, die Erwachsenen haben Zeit zu quatschen und am Abend wird noch gemeinsam gegrillt. Es ist ein rundum perfekter Sonnabend – bis es Zeit für den Rückweg ist. Die Kinder sind müde und die Beine sind plötzlich viel zu schwer – die Kilometer bis nach Hause ziehen sich endlos und werden begleitet vom Jammern der Kinder und entnervten Schnaufen der Eltern. Zuhause angekommen ist die Stimmung am Tiefpunkt, die Kinder werden heulend bettfertig gemacht und weil es schon so spät ist, fällt die Gute-Nacht-Geschichte aus. Als die Woche darauf seitens der Eltern erneut eine Fahrradtour vorgeschlagen wird, weigert sich der Sohn. Sein Rad verstaubt seitdem im Keller. Warum ist das so, dass ein unschönes Ende die Erinnerung an einen ansonsten tollen Tag kaputt machen kann? Dass ein Rosenkrieg eine im Grunde jahrelang harmonisch funktionierende Ehe überschattet, dass die letzten fünf Minuten eines Films die komplette Geschichte zerreißt? Dass oftmals ein negatives Erlebnis den Menschen dermaßen prägen kann, dass er über Jahre alle weiteren Versuche in dieser Richtung aufgibt, selbst wenn erste Erlebnisse durchaus positiv waren?

Wie ein Wachsabdruck: Was bleibt von der Erinnerung?

Erinnerungen sind trügerisch. Sie sind nicht, wie von Aristoteles früher einmal angenommen, im Gehirn eingraviert wie die Furchen in einem Baumstamm. Eher werden sie wie ein Abdruck in Wachs abgespeichert, sind sich Neurowissenschaftler heute einig. Dabei spielen Gefühle eine besondere Rolle. Wie wir uns bei einem Erlebnis fühlen ist entscheidend für das Gehirn und die Einordnung der Erinnerung. Dabei können ursprünglich positive Erinnerungen nachträglich eine negative Gewichtung haben. Sie werden manipuliert, überschattet und geformt, immer wieder und so lange, bis sie für die individuelle Wahrnehmung passend sind. Diese Schutzfunktion ist wichtig; nur so ist der Mensch in der Lage, eine emotionale Stabilität aufzubauen, mit denen er im Alltag bestehen  kann. 

Das Ende ist das, was prägt 

Wissenschaftler erklären das eingangs beschriebene Phänomen mit der „Höchststand-End-Regel“, die der Nobelpreisträger Daniel Kahneman mit seinem „kalte Hand“-Experiment beweisen konnte (www.nzz.ch – wie wir uns laufend neu erfinden). Dabei wurden Probanden aufgefordert, ihre Hand bis zum Handgelenk in schmerzhaft kaltes Wasser eintauchen. Das Experiment ging über zwei Episoden, einmal 60 und einmal 90 Sekunden. Der zweite Durchgang war die ersten 60 Sekunden identisch, über die folgenden 30 Sekunden wurde jedoch geringfügig wärmeres Wasser hinzugegeben, welches die Temperatur um insgesamt ein Grad ansteigen ließ. Das Wasser war immer noch kalt, lediglich eine geringfügige Schmerzlinderung wurde während der extra 30 Sekunden geschaffen. Im Anschluss mussten sich die Probanden entscheiden, welche der beiden Versuche, sie nochmal durchlaufen wollten. 80 Prozent wählten die zweite, längere Episode und nahmen damit 30 Sekunden länger dauernden Schmerz in Kauf. Die Wahl wäre intuitiv gewesen, erklärte Kahnemann, aber dennoch auf den allgemein gültigen Gedächtnisregeln basierend: „Das Gedächtnis ist evolutionär darauf ausgelegt, den Gipfel einer schmerzhaften oder auch lustvollen Episode sowie die Gefühle am Ende abzuspeichern, wobei die Dauer des Erlebnisses vernachlässigt wird.“ Der Nobelpreisträger unterscheidet daher zwischen dem erlebenden und dem erinnernden Selbst. Letzteres bezeichnet er als einen Tyrann. 

Von der Tyrannei des erinnernden Selbst

Das erinnernde Selbst irre sich zwar, aber es führe Regie über das Leben und was der Mensch daraus lerne. Und es treffe die Entscheidungen über zukünftige Handlungen sowie über die Art und Weise, wie Erlebtes abgespeichert werde. Das mag schockierend sein, denn immerhin, so der eigene Anspruch, sind es doch die Erinnerungen, die uns ausmachen. Während wir bei anderen oft vermuten, dass sie sich irren, schließen wir selbiges bei uns kategorisch aus. Die Erinnerungen in Frage zu stellen, heißt alles in Frage zu stellen. Das thematisiert der Schriftsteller Julian Barnes in seinem Roman „Vom Ende einer Geschichte“, in der er seinen Protagonisten Anthony Webster zwingt, sich seiner Vergangenheit zu stellen. Ein Nachlass der Mutter einer früheren Freundin bringt ihn dazu, seine Lebensgeschichte neu zu schreiben und sich einzugestehen, dass nicht alles so war, wie Webster es über 40 Jahre lang gedacht hat. Das was Barnes beschreibt, nennt der Psychologe Endel Tulvig eine „mentale Zeitreise“. Doch was dabei herauskommt, wenn man einen Zeitpunkt A zu einem Zeitpunkt B nochmal erlebt, degradiert der Neurophysiologe Wolf Singer als „datengeschützte Fiktion“. Dafür verantwortlich ist ein winziger Teil des Gehirns, der für das autobiografische Gedächtnis zuständig ist. Da dort lediglich rekonstruiert statt abgerufen wird, können Informationen verloren gehen. Die Lücken werden mittels „Versatzstücke“ ergänzt. So kommen Erzählungen von Dritten hinzu, die im Laufe der Jahre zu eigenen Erinnerungen werden. Besonders häufig geschieht dies bei Kindheisterinnerungen, womit nicht selten der Amnesie der ersten fünf Lebensjahre entgegengewirkt werde. Tatsächlich beziehen sich 70 Prozent unserer Erinnerungen auf das erste Lebensdrittel und nur 30 Prozent auf die vielen Jahre nach dem 25. Geburtstag. Was nicht bedeutet, dass der Mensch als Erwachsener nichts mehr erlebt. Vielmehr werden einzelne Erinnerungen miteinander verwoben. Das ist gut so. Nur so hat der Junge mit dem verstaubten Fahrrad die Chance, aus dem verkorksten Abend einen schönen Familientag zu machen. Selbst wenn es einen Winter und unzählige Erzählungen, über die vielen tollen Eindrücke dieses Tages bedarf, bis sein erinnerndes Selbst diese annimmt. 

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Katharina Loof, geboren 1980 in Nordrhein-Westfalen, begann ihre journalistische Tätigkeit im Kölner Raum, bevor sie 2010 nach Schöningen zog. Die dreifache Mutter mag Dorf-Klüngel und Pflastersteine auf vollen Marktplätzen. Am Lokaljournalismus schätzt die Esbeckerin die Nähe zum Menschen. Die Karnevalistin tritt gerne mal zu stark auf’s Gas: sowohl im Fahrzeug als auch bei der Freigabe der Autokorrektur.