Teil I: Zwischen Hoffnung und Scheitern: „Wir schaffen das!“ – Wenn aus Optimismus Bitterkeit wird und Vorurteile der Flucht vorauseile
Afghanistan – rund 40 Millionen Menschen leben in diesem Land in Südasien eingegrenzt zwischen Iran, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan, China und Pakistan. Knapp 26 Millionen Afghanen sind aktuell (Stand 2021; National Geographic, Sept. 2021; de.statistica.com) unter 25 Jahre alt, rund 50 Prozent der Bevölkerung sind Kinder; an die Schreckensherrschaft der Taliban, die das Land wieder für sich einnehmen, erinnern sich nur noch die wenigsten der Menschen – zumindest nicht in den Städten des Landes, die allerdings nur einen kleinen Teil der Menschendichte ausmacht. Mehr als 80 Prozent der Afghanen leben in den ländlichen Regionen des Landes, die von der dominierenden Berglandschaft des Binnenstaates geprägt wird. Helal Ahmad Malakzada und Hamidullah Hosseini scheinen somit genau ins Klischee der Afghanen zu passen, die das Land laut Statistik präsentieren. Beide sind Mitte 20 kommen aus überschaubaren Kleinstädten, die das Bergland ausmachen. Wenn Helal von „seinem Afghanistan“ spricht, leuchten seine Augen – ob vor Sehnsucht oder vor Trauer, lässt sich nur erahnen. Vielleicht ist es eine Mischung aus beidem.
„Mein Afghanistan – dieses Land gibt es nicht mehr“
Helal spricht von grünen Landschaften, weißen Berggipfeln, blauen Seen, von heißen Sommern und sehr kalten, schneereichen Wintern, er erzählt von Gastfreundschaft und Menschenliebe. „Mein Afgha-nis-tan ist ein schönes Land. Ein Land zum Reisen und Entdecken.“ Doch: Er sagt auch, dass dies alles vor mehreren Jahrzehnten einmal einladend gewirkt hätte. Dies war weit vor seiner Zeit. Dass dieses Afghanistan seiner Erzählungen mal wieder genauso werden kann, daran glauben er und sein Freund und Mitbewohner Hamidullah nicht. Denn „Hoffnung“, so die beiden Schöninger, gäbe es nicht mehr. Helal und Hamidullah waren seit sechs Jahren nicht mehr „zuhause“. Beide verließen 2015 ihre Familien und kamen mit hunderttausend anderen Flüchtlingen nach Deutschland (laut der Bundeszentrale für Politische Bildung wird die Anzahl der 2015 ankommenden Asylbewerber mit afghanischer Staatsangehörigkeit auf 154.000 Menschen geschätzt). In einer Zeit, als Angela Merkel mit ihrem viel zitierten Slogan „Wir schaffen das“ in Deutschland für eine Willkommenskultur kämpfte, die sie ein Jahr später in Folge von einem zunehmenden Widerhall seitens der Bevölkerung und parteipolitischen Verluste revidieren musste. „…Deutschland ist ein starkes Land“, sagte die Bundeskanzlerin in besagter Pressekonferenz am 31. August 2015. „Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das! Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden. Der Bund wird alles in seiner Macht Stehende tun – zusammen mit den Ländern, zusammen mit den Kommunen -, um genau das durchzusetzen.“
Was ist aus diesen Worten geworden?
Was ist innerhalb von sechs Jahren passiert, dass Merkels Bilanz der deutschen Afghanistan-Politik mit dem Resümee „Bitter, dramatisch und furchtbar“ (Zitat aus der Pressekonferenz zum Abzug der Streitkräfte aus Afghanis-tan vom 16. August 2021, Das Erste, „Scheitern mit Ansage“) so ernüchternd abschließt? „Afghanistan – ein Land im Zwiespalt oder: Kein schöner Land?“ ist das Monatsthema im November und soll eingangs die Flüchtlingsthematik in den Fokus stellen. Im Folgenden wird ein Blick auf die Geschichte des Landes, die Entwicklung der Krise und der tiefen inneren Spaltung beleuchtet, bevor die Einschätzung und das Erlebte von Soldaten, die in Afghanistan stationiert waren, die Frage aufwerfen, was 20 Jahre deutsche Afghanistanpolitik gebracht haben und wie die Zukunft des Landes aussehen kann. Was zwingt Menschen wie Helal und Hamidullah, ihre Familie, ihre Heimat mit nichts als einen Rucksack zu verlassen, sich über 5.000 Kilometer, davon 3.000 Kilometer zu Fuß durch Berge und Wälder zu kämpfen – tagelang ohne Nahrung und Wasser, monatelang ohne Zuversicht? Was machen Jahrzehnte langes Kriegsgeschehen mit den dort lebenden Menschen? Welche Verantwortung trägt das Land selbst an der aktuellen Situation und welche Rolle hat das Ausland beizutragen?
Teil II: „Afghanistan – das ist weit mehr als die Stadt Kabul“ – Zwanzig Jahre ohne Perspektive – im Monathsthema sprechen zwei Flüchtlinge über den versuchten Neuanfang in Deutschland
4.918 Kilometer Luftlinie liegen zwischen Berlin und Kabul. Mit dem Flugzeug bräuchte man elf-einhalb Stunden, um diese -Distanz zu überwinden, mit dem Auto würde die reine Fahrtdauer vom südlichsten Zipfel Deutschlands gerechnet 78 Stunden betragen. Eine Strecke, die abenteuerlustige Backpacker gut vermarkten könnten. Denn die zu passierenden Stationen Österreich, Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzogowina, Serbien, Bulgarien, Türkei, Iran und je nach Route auch Pakistan bieten jede für sich genügend Material, um zahlreiche Reiseberichte zu füllen.
Der Weg Richtung Freiheit
Helal Ahmad Malakzada und Hamidullah Hosseini könnten ebenso viele Blogs füllen. Allerdings hat ihr Reisebericht wenig mit Abenteuerlust und -Entde–ckergeist, jedoch umso mehr mit dem Verlangen nach Freiheit zu tun. Beide sind vor sechs Jahren aus ihrer Heimat Afghanistan geflüchtet. Circa 5.000 Kilometer, davon geschätzte 3.000 Kilometer zu Fuß. Auf Pkw oder Lkw sind sie nur nahe der Grenzen umgestiegen, wobei auch diese Transportmöglichkeit keine Erholung mit sich brachte. So berichtet Hamidullah von 20 Personen in einem Mittelklassewagen. Helal selbst harrte gemeinsam mit vier anderen Flüchtlingen zwölf Stunden lang in einem Kofferraum eines Peugeot aus. „Es hat Stunden gedauert, bis ich danach wieder normal gehen konnte – ich konnte kaum meine Beine bewegen“, erzählt er. Ansonsten berichten er und sein Freund Hamidullah, mit dem er sich in Schöningen eine Wohnung teilt, nur verhalten von den Monaten der Flucht. Damals – 2015 – waren sie 17 Jahre alt, so zumindest wurde ihr Alter bei der Ankunft in Deutschland von den zuständigen Behörden bestimmt. Seit sechs Jahren verfolgen sie das Geschehen ihres Landes aus dem Fernsehen, so oft es geht, versuchen sie persönlich Kontakt zu ihren Familien aufzunehmen. Sie hören in den Nachrichten die Meldungen über Bombenanschläge und immer wieder über Tote, sehen die Bilder des Chaos, hören Geschichten über den Vormarsch der Taliban, die Terror und Gewalt zur Tagesordnung machen. Das sind die Bilder, die medial verbreitet werden. Die bei vielen Bestürzung, bei nicht wenigen aber auch Gleichgültigkeit auslösen. Diesem Land ist nicht zu helfen, die Menschen seien selbst Schuld an den dortigen Zuständen. Dies ist alles nichts, wofür Deutschland die Verantwortung trage. Solche und ähnliche Reaktionen und Meinungen kennen auch Helal und Hamidullah. Ob sie das wütend macht, ist eine der vielen Fragen, auf die Helal und Hamidullah erst einmal mit verständnislosem Schweigen antworten. Dann schütteln sie den Kopf. Nein, sie seien nicht wütend. Überall gäbe es „solche und solche Menschen.“ Im Grunde wüssten doch die wenigsten, was in Afghanistan passiert. „In den Nachrichten wird immer nur Kabul gezeigt. Doch Afghanis-tan ist viel mehr als diese eine Stadt“, meint Helal und erzählt von seinem Leben in einer Kleinstadt in den Bergen. Zur Schule ist er nicht gegangen. Das sei auch ein Privileg der Stadtmenschen. Er habe mit Gelegenheitsjobs seine Familie unterstützt; durchschnittlich 20 Cent pro Stunde wären maximal möglich gewesen.
Beide versuchen zurecht zu kommen. Dafür tun sie viel: Die sechs Jahre, die sie nach einem kurzen Aufenthalt in Offleben nun schon in Schöningen leben, wurden nicht untätig verbracht. Nach einem erfolgreichen Deutschkurs fingen beide eine Ausbildung an. Helal arbeitet derzeit in einem Altenheim als Assistenzpflegekraft. Die Arbeit mache ihm großen Spaß, vor allem der Umgang mit den Menschen sei ihm wichtig. Ansprüche stellt er keine; wenn Not am Mann ist, springt er immer ein. Sozusagen können beide als Paradebeispiel für eine gelungene Integration genannt werden, wenn da nicht Vorurteile wären, die sich Helal und Hamidullah auch nach sechs Jahren noch stellen müssen. So musste Hamidullah seine erste Lehrstelle nach einem Jahr abbrechen, weil er der Konfrontation mit seinen Kollegen nicht mehr standhalten konnte. „Mich hat auf der Arbeit niemand beim Namen genannt. Ich war immer nur ‚der Kanacke‘.“ Täglich wurde gefordert, dass er zurück in sein Land gehen sollte. Die Fragen, wieso er in Deutschland und besonders warum er alleine gekommen sei, bringt ihn an seine Grenzen.
Wer zurückbleibt, stirbt
Hamidullah erzählt, dass ihre beider Familien alles Wertvolle verkauft hätten, um den Söhnen die Flucht zu ermöglichen. Und dann wären sie „einfach“ gegangen. Monatelang über Berge und durch Wälder, 3.000 Kilometer zu Fuß, mit nichts als einem Rucksack dabei. „Wir durften nicht mehr mitnehmen außer Wasser, Brot und eine Hose zum Wechseln“, berichtet Helal. Das erste Mal geduscht hatten sie in München, von wo aus Helal über Hannover und Hamidullah über Berlin und Kassel nach Offleben gebracht wurde. Dort hätten sie sich dann getroffen und erstmal geschlafen – „bestimmt eine ganze Woche lang“. Denn auch das Ausruhen wäre während der Flucht, in der Achtsamkeit und Verstecken oberste Gebote waren, immer nur über kurzen Phasen möglich gewesen. „Diese Flucht geht nicht als Familie“, ist sich Helal sicher. Wer zurückbleibt, der stirbt. Dass sie funktionieren mussten, hätten ihnen spätestens die Toten deutlich gemacht, die sie auf ihrem Weg passiert hätten. Auch noch diese vielen Jahre später kann das Ausmaß des Weges, die Tragweite ihrer Entscheidung nicht ganz eingeordnet werden. „Immer wieder kommen einzelne Bilder hoch“, sagt Helal. „Ich weiß nicht, wie wir das alles geschafft haben.“ Doch beide wissen, dass ihr Weg noch nicht beendet ist, denn angekommen sind sie nicht. Ohne Aufenthaltserlaubnis bleibt das Zuhause ein Wort der Vergangenheit.
Teil III: Sicherheit als utopisches Ziel: „Vieles war umsonst“ – „Der Talib brauchte nur zu warten…“ Der HELMSTEDTER SONNTAG spricht im Monatsthema mit zwei Soldaten über ihre Afghanistan-Erfahrungen
Als Bundeskanzler Gerhard Schröder am 22. Dezember 2001 zum Einsatz in Afghanistan aufrief, sprach er von einer „kurzen, gezielten Friedensmission“ für die Dauer von sechs Monaten. 20 Jahre später geht mit dem Abzug der deutschen Soldaten aus dem Hindukusch einer der größten und teuersten Einsätze der Bundesrepublik Deutschland zu Ende. Hinsichtlich der Kosten gibt es keine „allgemein akzeptierten“ Auskünfte, wie der Bundesrechnungshof einräumt. Auf eine Anfrage der FDP listet die Bundesregierung dennoch auf: „Für die Beteiligung der Bundeswehr an den Einsätzen International Security Assistance Force (ISAF), Operation Enduring Freedom (OEF) und der Resolute Support Mission (RSM) in Afghanistan wurden von 2001 bis zum 31. August 2021 insgesamt rund 12,3 Milliarden Euro an einsatzbedingten Zusatzausgaben -geleistet.“ Hinzu kommen Posten für die Aufbau- und Entwicklungshilfe, die mit mindestens vier Milliarden Euro beziffert werden.
20 Jahre später muss sich Deutschland die Frage stellen, was dies alles gebracht hat. Afghanistan steht vor einem Kollaps, mindestens 14 Millionen Menschen haben nicht genug zu Essen. Tausende Flüchtlinge drängen sich an den Absperrungen des Flughafens von Kabul. In den sozialen Netzwerken und in den Nachrichten werden Bilder des Chaos gezeigt, Menschen, die von der hysterischen Masse zerquetscht werden, von den letzten Auslandseinsatzkräften teils aus Stacheldraht herausgeschnitten werden müssen. Die Politik zeigt sich vorwiegend „schockiert, überfordert und ahnungslos“ (Nikolaus Steinert, wdr.de/daserste/monitor August 2021). Wie haben deutsche Soldaten das Land kennengelernt und wie beurteilen sie die Lage?
Der HELMSTEDTER SONNTAG sprach mit zwei der insgesamt 93.000 Soldaten, die über mehrere Einsätze hinweg nach Afghanistan geschickt wurden, über ihre Erlebnisse am Hindukusch. Marco Graf war von November 2009 bis zum März 2010 als Soldat im afghanischen Einsatz. Zu einer Zeit, in der die Brisanz der Lage „endlich“ auch in der Politik angekommen sei. „Karl-Theodor zu Guttenberg war der erste, der offen von einem Krieg gesprochen hat“, sagt Graf. Der frühere Verteidigungsminister sei bei vielen seiner Kollegen in positiver Erinnerung geblieben, sei er doch der einzige gewesen, der sich in seiner politischen Funktion am Hindukusch hat „blicken lassen“. „Viele Einsatzkräfte hätten sich mehr Unterstützung seitens der Politik erhofft“, gesteht auch Michael Kaminsky, der während seiner zwölfjährigen Soldatenlaufbahn zweimal für die Dauer von jeweils fünf Monaten in Afghanistan war. Als Gruppenführer für die Waffeninstandsetzung war er einmal im Sommer 2010 und über den Jahreswechsel 2012/2013 im Rahmen einer Stabilisationsmisson vor Ort.
Wie auch bei Graf ging den Einsätzen ein ausführliches Briefing vorweg. Zu den Lehrgängen gehören ein Einblick in die Kultur des Landes, die dort gültigen Regeln und Sitten sowie ein Überblick über die nationale Geschichte. „Kulturelle und sprachliche Bildung“, nennt Michael Kaminsky das monatelange Vorbereitungsprozedere, welches jeder Soldat durchlaufen muss. „Wir hatten alle Infos, wir kannten den historischen Background… Doch nichts hat uns tatsächlich auf Afghanistan vorbereitet“, sagt der ehemalige Soldat über seine Einsätze in Südasien. Wie auch Graf, hatte Kaminsky erste Auslandserfahrungen im Kosovo gesammelt. Doch beide Einsätze seien in keinen Punkten miteinander zu vergleichen. „Hat man im Kosovo zumindest noch den Eindruck, sich in einem europäischen Land zu befinden, fühlt man sich in Afghanistan um mehrere hundert Jahre zurück katapultiert.“ Diese Empfindung hätte bei den fehlenden sanitären Anlagen sowie der mangelnden medizinischen Versorgung angefangen und sich bis zu der „faktisch nicht vorhandenen“ Infrastruktur erstreckt.
Nur via Sprachmittler auf Tuchfühlung mit dem Land
Mit den Menschen vor Ort hatten beide nur oberflächlich Kontakt. Sowohl für die Waffeninstandsetzung als auch für die Kampfmittelbeseitigung, für die Graf als Spezialist im Einsatz war, blieb man eher unter sich. Lediglich ein stets zur Seite stehender Sprachmittler hätte Nähe zum Land vermittelt. Doch eine vertrauensvolle Beziehung hätte sich nur selten aufgebaut, gesteht Kaminsky. Willkommen in diesem Land, in das die Bundeswehr „Frieden, Sicherheit und demokratische Stabilität“ bringen wollte, hätte man sich zu keiner Zeit gefühlt. Das hätte übrigens auf Gegenseitigkeit beruht; „das Verhältnis zu ausländischen Kräften ist auf einem tiefen Misstrauen gebaut.“ Das sei in Anbetracht der Geschichte Afghanistans vielleicht sogar verständlich. „Soldaten werden dort nicht als Helfer, sondern als Besatzer oder gar als Feind betrachtet“, meint Kaminsky. Entsprechend fällt das Urteil über die persönliche Mission sowie über die gesamte deutsche Afghanistan-Politik eher negativ aus. Dort wo jeder Kontakt zu einer „fremden“ Personen einen skeptischen „Bodycheck“ voraussetzt, kann nichts aufgebaut werden. „Zwischen unseren Kulturen liegen Welten. Dass der Drang der westlichen Demokratien, ihre Wertestandarts in andere Länder zu „missionieren“ vermessen sei, sieht Kaminsky als eines der Kernprobleme bei derartigen Einsätzen.
Um tatsächlich ein Mindestmaß an Stabilität in dieses zerrüttete Land zu bringen, hätte es weitaus intensivere Maßnahmen bedurft“, ist sich Kaminsky sicher, der den Abzug der Truppen eine „folgerichtige Entscheidung nennt.“ Das unterstreicht auch Graf. Dennoch waren beide über die Schnelligkeit der erneuten Machtergreifung der Taliban überrascht. „Der Fall des Mutterlagers Masar-i-Scharif – und das nur Wochen nach dem Abzug der Bundeswehrsoldaten – hat mich scho-ckiert“, sagt Kaminsky. Dennoch zeige auch diese plötzliche Machtübernahme, die fast gänzlich ohne Widerstand der afghanischen Sicherheitskräfte vonstatten ging, dass eine Stabilisation zu jedem Zeitpunkt der vergangenen Jahre im gewissen Sinne eine Illusion gewesen sei. „Der Talib war überall. Und er brauchte im Grunde nur zu warten.“ Letztendlich empfinden Graf und Kaminsky viele der dort geleisteten Bemühungen als umsonst. Wie sieht die Zukunft dieses Landes aus? „So wie vor dem Einsatz der Bundeswehr“, schlussfolgert Graf. Kaminsky ergänzt: „Die Taliban wird die Kontrolle übernehmen, einzelne Milizen stellen lediglich eine Co-Existenz dar.“
Teil IV: Afghanistans Geschichte: Das „große Spiel“ um Autonomie – Zum Abschluss des Monatsthemas lautet die Frage: Besetzt, zersplittert, befreit? Seit fast 200 Jahren kämpfen Afghanen gegen ausländische Interventionen
Auf die Zukunft Afghanistans angesprochen, gaben die befragten Flüchtlinge Helal und Hamidullah an, keine Hoffnung für ihre Heimat zu haben. Auch Marco Graf und Michael Kaminsky, beide waren als Soldaten am Hinduschkus im Einsatz, sehen nicht erst seit dem Abzug der Soldaten die geplante Mission „Sicherheit und demokratische Stabilität“ in das Land zu bringen als gescheitert an und die Zukunft der Menschen vor Ort eher pessimistisch. Das Verhältnis zu ausländischen Kräften sei, so berichtete Kaminsky unserer Zeitung, auf einem tiefen Misstrauen aufgebaut. Dies sei in Anbetracht der Geschichte Afghanistans sogar verständlich…Doch wann hat sich ein solch tiefgreifendes Misstrauen aufgebaut und welche Umstände genau machen es verständlich? Denn ist es nicht so, dass die Taliban in ihrem Wirken nichts als Gewalt und Unterdrückung über das Land gebracht haben? Und hätten nicht alle ausländische Soldaten, die dem Einhalt geboten, mit offenen Armen willkommen geheißen werden müssen?
Märchen über Krieg und Terror
Doch drei Viertel der afghanischen Bevölkerung ist so jung, dass sie den Talib nur von Erzählungen her kennen, die von der älteren Generation wie warnende Märchen weitergegeben wurden. Hat das Misstrauen eher seinen Ursprung in den Anschlägen vom 11. September 2001, in deren Folge die USA beschlossen, im Krieg gegen den Terror zuerst Afghanistan anzugreifen? Dabei, so beharrten auch Helal und Hamidullah, hätte Afghanis-tan nichts mit Al-Qaida zu tun. Tatsächlich sind die Taliban und Al-Qaida, die ihre Wurzeln in Pakistan haben, zwei unterschiedliche Netzwerke – es vereint sie jedoch ein fundamentalistischer Hass gegen westliche Werte und die absolute Abneigung gegen jegliche Art der Unterwanderung ihres Landes. Und auch wenn die Macht der Taliban, die Anfang der 1990er Jahre im Zuge des afghanischen Bürgerkrieges erstmals in Erscheinung traten, als Erklärung für die unsichere Situation Afghanistans ausreicht, ist es damit nicht getan. Denn zwar kontrolliert die Organisation nicht nur den Opiumhandel und damit einen nicht zu unterschätzenden Wirtschaftszweig des Landes, sondern auch die Bevölkerung, die die Taliban trotz aller Schrecken, die sie verbreiten, als eine Art Ruhepol ansieht, der das Land zu vereinen scheint.
Was widersprüchlich erscheint, wird mit Blick auf die tiefere Geschichte des Landes eher verständlich: Afghanistan war und ist ein Staat, der sich mehr aus vielen verschiedenen Stammesgebieten statt aus einem zentralisierenden Gedanken identifiziert. Auch noch knapp 130 Jahre nach der Bildung des heute existierenden Nationalstaates gibt es in Afghanistan viele verschiedene Bevölkerungsgruppen (die größten davon sind die Paschtunen und die Tadschiken), die teilweise durch Gebirgszüge voneinander getrennt leben und noch nicht mal dieselbe Sprache sprechen. Die Idee, sich zu einem Staat zu formen, entstand also nicht aus eigenem Antrieb, sondern muss vielmehr als Friedensgeschenk an das britische Imperium gesehen werden, welches sich ein Wettrennen mit dem russischen Reich um die Vorherrschaft in Zentralasien lieferte. Der Konflikt, der sich über das gesamte 19 Jahrhundert erstreckte, wird auch als das „große Spiel“ bezeichnet, dessen Einsatz Afghanistan war. Während die Russen über Turkestan zum indischen Ozean vorstoßen wollten, um einen eisfreien Hafen zu schaffen, sah das British Empire seine Vormachtstellung und damit vor allem sein indisches Juwel in Gefahr.
Kein Frieden ohne Durand-Lösung
Die Rivalität zwischen den Großmächten eskalierte von 1839 bis 1919 in drei anglo-afghanischen Kriegen. Obwohl die Kriege größtenteils erfolglos für die Briten verliefen, verschafften sie sich die Kontrolle über Afghanis-tans Außenpolitik, indem sie Abdur Rahman Khan als Emir einsetzen. Dieser zeigte sich erkenntlich und willigte einem Grenzverlauf ein, mit dem die Briten Ruhe für die Region versprachen. Die knapp 2.500 Kilometer lange Durand-Linie wurde vermeintlich willkürlich auf dem Papier gezogen und brachte dem britischen Reich großzügige territoriale Gewinne für ihr Imperium ein. Die in der Region lebenden Paschtunen wurden auseinandergerissen und von einer geografischen Grenze getrennt, die sie nicht wollten. Eine Grenze, die seit 1947 sogar Kriegsgebiet ist. Denn während die Afghanen mit der Staatsgründung Pakis-tans auf eine Rückgabe der verlorenen Gebiete hofften, fühlten sich die pakistanischen Paschtunen vom Emir und den Afghanen verraten. Viele Historiker sind daher der Meinung, dass ein Frieden in Afghanistan nur durch Klärung des Durand-Konflikts möglich sei.
In der kurzen Friedensphase zwischen dem Ersten Weltkrieg und 1979 öffnete sich Afghanis-tan dank der Modernisierungsmaßnahmen des Schahs Mohammed Zahir für westliche Werte. Der König stellte sein Land neutral auf und profitierte so von finanzieller Hilfe aus der Sowjetunion und aus dem westlichen Europa. Mit dem Sturz Zahirs 1973 und dem Ende der Monarchie sah sich die UdSSR in der Lage, kommunistischen Einfluss ausüben zu können. Zu Hochzeiten des Kalten Krieges konnte das die USA nicht dulden, sah sich aber nach dem Vietnam-Desaster nicht in der Lage, militärisch zu intervenieren. Stattdessen nutzte Präsident Carter die radikal-islamistische Mujahedin, die gewillt waren für ihn beziehungsweise gegen den Kommunismus zu kämpfen. Geld sowie Waffen wurden über Pakistan nach Afghanistan geschleust. Pakistan aber bediente nur einzelne spezielle Gruppierungen und sorgte so für eine Zersplitterung. Später finanzierte auch Saudi-Arabien die immer größer werdenden Widerstandskämpfer. Als sich Russland zehn Jahre später aus dem Konflikt zurückzog, waren viele verschiedene Interessengruppen in Afghanistan vertreten, darunter Al-Qaida als Hauptförderer der Taliban. Diese kämpften längst nicht mehr nur gegen den Kommunismus, sondern offen gegen Demokratie und im Generellen gegen den zunehmenden westlichen Einfluss. Diese Entwicklung fand ihren fatalen Höhepunkt in den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Der Rest ist Geschichte…
Katharina Loof, geboren 1980 in Nordrhein-Westfalen, begann ihre journalistische Tätigkeit im Kölner Raum, bevor sie 2010 nach Schöningen zog. Die dreifache Mutter mag Dorf-Klüngel und Pflastersteine auf vollen Marktplätzen. Am Lokaljournalismus schätzt die Esbeckerin die Nähe zum Menschen. Die Karnevalistin tritt gerne mal zu stark auf’s Gas: sowohl im Fahrzeug als auch bei der Freigabe der Autokorrektur.