Alles spricht von Digitalisierung und ihren Folgen, wenige aber davon, wie ein gesellschaftlicher Wandel selbst dazu geführt hat, dass diese möglicherweise so drastisch ausfallen, wie manch ein beschriebenes Szenario suggerieren mag.

Von Mitte der 1970er Jahre bis 1980 wurden pro Jahr zwischen 850.000 und einer Millionen Kinder in Deutschland geboren. Geburtsjahrgänge, die Mitte der 1990er Jahre ihre Ausbildung oder ihr Studium beginnen sollten. 1995 sah dies so aus: rund 260.000 Menschen waren an deutschen Universitäten eingeschrieben. Auszubildende waren zu dieser Zeit 1.685.000 gemeldet, davon 615.000 in Handwerksberufen.

Auf die Schule folgt in der Regel Ausbildung oder Studium – allerdings haben sich in den vergangenen 20 Jahren die Prioritäten verschoben

23 Jahre später, 2018 also, hatte sich das Verhältnis Studierende zu Handwerksazubis nahezu umgekehrt: rund 500.000 Studenten waren an Universitäten eingeschrieben, nur 368.000 Auszubildende gab es im Handwerk. Die rund 100.000 Geburten weniger pro Jahr in den entsprechenden Jahrgängen drüc-ken dabei auch die Zahl der Auszubildenden und Studierenden insgesamt, das Verhältnis bleibt dabei aber etwa stabil. Als Quelle für diese Zahlen dienen die Daten des Statistischen Bundesamtes.

Ein Haus baut sich nicht von ganz allein

Was hat das nun mit der Digitalisierung zu tun? Ganz einfach: Viele, wenn nicht sogar die meisten der klassischen Handwerke werden durch die fortschreitende Digitalisierung vergleichsweise kaum in der Art und Weise ihrer Ausübung betroffen sein. Häuser werden in absehbarer Zeit nicht von Robotern gebaut (wenngleich das grundsätzlich technisch auch heute schon möglich ist), die Hausinstallation wird auch schwerlich anders als von Menschenhand übernommen werden können. Tapeten und Farbe zaubern sich ebensowenig an die Wand, wie Fenster und Türen eingesetzt werden. Ein Dach will fachmännisch gedeckt werden, der Außenbereich gegebenenfalls gestaltet.

Auch in Bereichen, in denen es weniger um das „Häuslebauen“ als um viel lebensnähere Dinge geht, setzt sich dies fort: Ja, Brot und Brötchen lassen sich durchaus im industriellen Maßstab fertigen, auch Wurst ist per Maschinen leichter in großen Mengen produzierbar. Doch gänzlich ohne Menschen kommt man in diesem Berufsfeld nicht aus. Man denke alleine an das Zerlegen der Tiere. Eine Arbeit die rein maschinell viel zu komplex wäre, als das sie jetzt schon umsetzbar wäre, was nicht zuletzt auch an den individuellen Unterschieden der zu verarbeitenden Rohstoffe liegt. Das gilt analog natürlich auch für den Koch oder – aus einem gänzlich anderen Berufsfeld – den Frisör, der seinerseits hochgradig individuelle Handwerksarbeit leistet.

Studienberufe im Nachteil?

Anders wiederum sieht das in vielen Berufsgruppen aus, denen ein Studium als Zugangsvoraussetzung vorgeschoben ist. Ärzte sind (aufgrund der gleichen Individualität ihres Klientels wie beim Frisör) schwierig zu ersetzen, Finanzwissenschaftler, Versicherungsfachleute und ähnliches müssen hingegen schon eher darum fürchten, „vom Computer ersetzt zu werden“. Denn exakt das passiert bereits seit einigen Jahren: Ein Blick in die Finanzbranche genügt, um festzustellen, dass das Filialnetz der Banken vom vergangenen Jahrzehnt bis heute extrem ausgedünnt wurde. Geldautomaten und SB-Terminals ersetzen mit ihrem 24-Stunden-Service in den meisten Fällen den Schalter. Online-Banking und Co laufen nahezu vollautomatisch. Ein Manager aus der Finanz- und Versicherungsbranche sagte schon vor einigen Jahren sinngemäß: rund 80 Prozent seiner Angestellten würden nur noch deshalb dort arbeiten, weil die Kunden lieber mit einem Menschen sprechen würden. Wann sich das ändert, ist allerdings nur noch eine Frage der Zeit. Schon heute vertrauen die Menschen ihrem Smartphone deutlich mehr sensible Daten zu sich selbst an, als sie es gegenüber irgend einer Bank, Versicherung oder selbst ihren Lebensgefährten tun würden. Dass die Daten dort nicht wirklich sicher sind, scheint ausgeblendet zu sein.

Der Computer hat auch viele weitere Berufe obsolet werden lassen,wenngleich auch Neue geschaffen – durchaus auch im Handwerk. Die Bilanz dort zwischen Wegfall und neuer Arbeit allerdings blieb weitestgehend gleich. Vor allem zusätzliche Bürokratie ist es, die mit neuen Aufgaben ins Feld rückte und für weitere Mehrarbeit sorgte.

Oder ganz kurz: In Zeiten der Digitalisierung hat das Handwerk goldenen Boden. 

Nachfrage sorgt für (krisen)sichere Arbeitsplätze

Doch, es spricht noch deutlich mehr dafür. Der aktuelle Kräftemangel in vielen handwerklichen Berufsfeldern macht das Handwerk zu einem attraktiven Arbeitgeber. Ein hoher Prozentsatz der in handwerklichen Branchen tätigen Betriebe suchen händeringend nach Arbeitskräften. Sowohl Azubis, wie auch Fachkräfte und zum Teil sogar ungelernte Hilfskräfte. Die Auftragslage nämlich ist hoch. So hoch, dass nicht wenige Betriebe Aufträge ablehnen müssen, da schlicht keine freien Kapazitäten vorhanden sind. Das wiederum ist natürlich nicht nur im Handwerk so – der Pflegesektor seinerseits und die Gastronomie suchen ebenfalls händeringend nach Menschen, die die freien Stellen besetzen wollen – dort aber eben besonders drastisch. Und auch scheint Handwerk eher krisensicher zu sein. Die Folgen von der DotCom-Blase im Jahr 2000, Finanzwirtschaftskrise in 2007 und Eurokrise 2010 haben dort natürlich auch Spuren hinterlassen, die nicht selten kleinen und mittelständischen Unternehmen haben sich aber vergleichsweise schnell wieder gefangen, was für große Firmen oft nicht ganz so einfach war, zum Teil sogar Rettungsschirme aus Steuermitteln aufgespannt werden mussten, wohingegen sich die Betriebe vor Ort aus eigenen Kräften auffingen.

Eine Frage der Perspektive

Die Entwicklungen, wie sie sind, sind mitunter eine Folge des steten Wunsches der Menschen in diesem Land, „dass es den Kindern einmal besser gehen solle“. Bildung war und ist ein hohes Gut in Deutschland. Qualifizierung war stets ein Weg, der Menschen den Sprung aus der „einfachen Arbeiterklasse“ in bessere berufliche Positionen erebnete. Der Weg war dabei nicht selten steinig, weswegen man es seinen Nachkommen einfacher gestalten wollte, mit der gedanklichen Zielvorgabe, einen „besseren Beruf“ zu erlangen, als den eigenen. 

Natürlich, der Manager verdiente auch in den 1960er-Jahren schon deutlich mehr als der Facharbeiter im Sanitärhandwerk. Natürlich war es deshalb ein nachvollziehbares Ziel, dem Nachwuchs den Weg zu ebnen, um zumindest die Möglichkeit zu erlangen, selbst die bessere Position einzunehmen. Daran ist absolut nichts auszusetzen, denn die Chancen, die sich damit auftun, sind groß. Nur einen Vergleich anstellen, welcher Beruf besser ist, als der andere, sollte vielleicht besser denen überlassen werden, die sie später auch ausüben müssen.

Es gibt keine „guten und schlechten“ Berufe, solange sie der Person die sie ausübt, Freude bereiten und den Lebensunterhalt sichern. Das scheinen die Menschen gelernt zu haben, denn der Trend bei den Azubis, insbesondere im Handwerk, scheint im vergangenen Jahr wieder den Weg nach oben eingeschlagen zu haben.

Wandel im Handwerk – wie geht es weiter?

Dass die Auftragslage im Handwerk zurzeit gut ist, kann jedermann ganz einfach erkennen. Schon Terminanfragen für einen mögliche Auftrag sind in manchen Handwerksbranchen gar nicht so einfach zu bekommen. Ähnlich geht es natürlich der öffentlichen Hand: Da die Nachfrage nicht selten den Preis bestimmt, stiegen branchenübergreifend die Summen an, die bei Ausschreibungen für die anfallenden Arbeiten gefordert wurden – so sich denn überhaupt Unternehmen mit freien Kapazitäten beworben hatten.

Wie schon in der vergangenen Woche berichtet, ist es allerdings nicht nur so, dass die Auftragslage durchaus gut ist, sondern demgegenüber ein spürbarer Fachkräftemangel im Handwerk herrscht. Seit Jahren schon wird händeringend Nachwuchs in Form von Auszubildenden gesucht. Nicht selten vergeblich oder zumindest nicht in der benötigten Stellenanzahl. Vor diesem Hintergrund suchen viele der Betriebe daher auch ausgebildete Fachkräfte und in einigen Fällen auch Hilfsarbeiter. 

Zuwanderung als Lösung?

„Wir brauchen eine gezielte Fachkräfteeinwanderung, da sind sich alle einig. Die Debatte führen wir nicht mehr über das Ob, sondern nur noch über das Wie. Wir sind uns im Klaren darüber, dass nicht sofort 30.000 Fachkräfte vor der Tür stehen werden, wenn das Gesetz am 1. März kommt. Wir werden vermutlich erst einmal mit kleinen Zahlen anfangen, die dann kontinuierlich steigen. Es ist nun eine gemeinsame Aufgabe, in Drittstaaten Fachkräfte zu gewinnen, Berufsabschlüsse anzuerkennen, Fachkräfte bei Bedarf zu qualifizieren und zu vermitteln. Das wollen wir alle zusammen machen. Das Gesetz muss unbürokratisch und unkompliziert angewendet werden. Dazu gehören dann auch schnellere Visaverfahren“, erklärt Hans Peter Wollseifer, Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH) auf dessen Internetseite www.zdh.de . 

Allerdings sei das sicher nicht die alleinige Lösung, schränkt Wollseifer ein: „Die Zuwanderung von Fachkräften kann eine wirkliche Entlastung bringen, aber die bestehende Fachkräftelücke werden wir auch so nicht vollständig füllen können. Wir müssen deshalb weiter auch alle Potenziale in Deutschland fördern. Wir müssen Langzeitarbeitslosigkeit nachhaltig weiter bekämpfen und dafür sorgen, dass Langzeitarbeitslose in den ersten Arbeitsmarkt kommen. Wir müssen Frauen – gerade auch in technischen Berufen – fördern. Damit noch mehr Frauen überhaupt im Beruf tätig werden können, müssen die Bedingungen etwa durch mehr Kitas und Ganztagsbetreuung in den Schulen verbessert werden.“

Handwerk fordert wieder Werkunterricht an Schulen

In Hessen fordert derweil der Handwerkstag, den klassischen Werkunterricht wieder an allen Schulen einzuführen. Jungen Menschen soll die Wertigkeit des Handwerks nahegebracht werden, um so dem Lehrlingsmangel und der Nachwuchsmisere entgegenzuwirken. Eine Idee, mit der sich die Vertreter der Handwerksbetriebe auch in anderen Bundesländern anfreunden können – dem Schulfach eine höhere Wertigkeit zu geben. Nicht so recht auf Gegenliebe stößt dieser Vorstoß allerdings bei den Lehrern. 

Ein gutes Beispiel indes, wie praxisnaher Unterricht auch förderlich für die Entwicklung der Schüler sein kann, bietet seit Jahren die Praxisklasse an der Schöninger Eichendorffschule. 

Meisterpflicht: Ist die beschlossene Rückkehr zu den alten Voraussetzungen ein Schritt zurück oder nach vorne?

Der Meistertitel hat in der Geschichte des deutschen Handwerks eine lange Tradition. Und ebenso lange wie es ihn gibt, so wechselvoll ist seine Geschichte. Schon seit dem Mittelalter regulierten Marktzugangsbeschränkungen per Meistertitel die Ausübung von Handwerken in Deutschland. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden diese wieder aufgehoben, zum Ende hin wieder eingeführt. 

Seitdem gab es einen steten Wechsel in Art und Weise und Umfang der Beschränkungen, die mit dem Nichtvorhandensein eines Meistertitels einher gingen. 

Die jüngste große Änderung nach einer recht restriktiven Meisterpflicht, die 1953 beschlossen wurde, gab es in Deutschland im Jahr 2004: 53 der 130 Handwerksberufe wurden vom Meis-terzwang befreit. Nun soll ein Schritt zurück gemacht werden: Die Große Koalition hat sich darauf geeinigt, in zwölf Handwerken die Meisterpflicht wieder einzuführen. 

Doch was bedeutet die Meisterpflicht überhaupt? In erster Linie stellt sie eine Marktzugangshürde dar. Sie soll eine gewisse Zuverlässigkeit und Qualität der ausgeführten Arbeiten sicher stellen. Das Wissen, das in den Meisterkursen vermittelt wird, zielt zu großen Teilen auf Betriebsführung und wirtschaftliche Aspekte ab, weswegen Kritiker die Zugangsbeschränkung nicht selten als Verminderung des Wettbewerbs ansehen.

Wie immer hat eine Medaille dabei zwei Seiten. So zeigte eine Studie auf Grundlage des Mikrozensus‘, dass ohne Beschränkung die Wahrscheinlichkeit, einen Handwerksbetrieb zu gründen, nahezu verdoppelt wurde, während die Wahrscheinlichkeit, einen Handwerksbetrieb aufzugeben konstant geblieben ist. 

Die Studie zeigte aber auch, dass die Zuwächse hauptsächlich von männlichen, gering qualifizierten Handwerkern stammten. Eine Aussage über mittel- und langfristige Nachhaltigkeit oder zur Qualität der ausgeführten Arbeiten konnte nicht getroffen werden.

Wen betrifft das neue Gesetzt nun? Die zwölf Handwerke die betroffen sind, sind Fliesen-, Platten- und Mosaikleger, Betonstein und Terrazzohersteller,   Estrichleger, Behälter- und Apparatebauer, Parkettleger, Rolladen- und Sonnenschutztechniker, Drechsler und Holzspielzeugmacher, Böttcher, Raumausstatter, Glasveredler, Orgel- und Harmoniumbauer sowie Schilder- und Lichtreklamehersteller. Da allerdings ein Bestandsschutz gilt, sind Betriebe, die seit 2004 ohne den Meistertitel gegründet wurden, weiterhin nicht von der Regelung betroffen. 

Bleibt also zu hoffen, dass, wie es sich die Regierung erhofft, eine Qualitätssteigerung eintritt.

Chefredakteurin at Helmstedter Sonntag | + posts

Katja Weber-Diedrich, geboren 1976 in Helmstedt, ist seit fast 30 Jahren Lokaljournalistin durch und durch. Der Legende nach tippte die ehrenamtlich Engagierte vor 25 Jahren den ersten HELMSTEDTER SONNTAG an einer Bierzeltgarnitur. Sowohl die Tiefen der deutschen Grammatik als auch die Wirren der Helmstedter Politik sind der Chefredakteurin nicht fremd; ihr Markenzeichen sind ehrliche Kommentare und Hartnäckigkeit.