Verschwörungstheorien machen sich in allen Lebensbereichen breit – das wird im Monatsthema deutlich.

Die Weltgesundheistorganisation (WHO) war früh dran: Die neue Lungenerkrankung durch den damals noch unbekannten Coronavirustyp ließ die Behörden zu Beginn des Jahres aufschrecken, drei Wochen später war von einer „gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite“, im Februar dann von einer „möglichen Pandemie“ die Rede. In diesen Tagen wurde hierzulande vielerorts eifrig Karneval und Fasching gefeiert, wer offen über Risiken sprach wurde nicht selten als paranoid betitelt. Die folgenden Beschränkungen wurden und werden immer noch kontrovers diskutiert.  

Zwischen Verleugnung, Paranoia und Skepsis: Wie Verschwörungstheorien entstehen, warum sie gefährlich sind und wie man ihnen begegnet

Gegner empfinden die Maßnahmen als übertrieben und ziehen zum Beweis die Zahlen zu Grippetoten, insbesondere die Influenzawelle der Jahreswende  2017/2018, die mit schätzungsweise rund 25.100 Opfern für die höchste Todesrate seit 30 Jahren verantwortlich ist, hinzu. 

Auch in diesem Zusammenhang warnte die WHO vor einer „Infodemie“, vor vorzugsweise im Internet verbreiteten Falschmeldungen und Verschwörungstheorien. 

Vier Monate später scheinen die Fronten weiter verhärtet,  die damalige Warnung ist für viele Menschen persönlich geworden. Sei es, dass sie selbst durch die Einschränkungen betroffen sind, existenzielle Ängste haben, oder dass sich Personen aus dem nahen Umfeld scheinbar plötzlich als Verfechter von Verschwörungsideologien entpuppen;  für eine gefühlt zu große Anzahl werden die Welt und die Geschehnisse mit einem Mal in Schwarz und Weiß, Gut und Böse selektiert.

 

Vom Netz auf die Straße: Verschwörungen werden persönlich

 

Doch auch wenn es sich bei den Anhängern von Verschwörungstheorien tatsächlich um eine Minderheit handelt, scheint sie zu wachsen um die Gruppe der Menschen, die hinter Corona und anderen Krisen einen mächtigen Plan vermuten. Zumindest werden fragwürdige Meinungen über einen teuflischen Bill Gates, der mit Zwangsimpfungen und Chipimplantaten die Weltbevölkerung kontrollieren möchte, über eine neue Weltordnung und diktatorische Verhältnisse nicht mehr nur im Netz, sondern mittlerweile wöchentlich bei öffentlichen Protestkundgebungen erklärt. 

Auf der anderen Seite hat man den Eindruck, als gehöre es zum guten Ton, sich über Verschwörungstheoretiker lustig zu machen. Anlass dazu gäbe es genug, denn immerhin vergeht kein Tag, an dem nicht „neue Erkenntnisse“ gewonnen werden, die beweisen, dass das Coronavirus in Wirklichkeit harmlos ist, hinter den Maßnahmen geheime Strippenzieher stecken, die für einen noch mysteriöseren Plan wahlweise eine ganze Bevölkerungsgruppe hinters Licht oder gar in den Tod führen. 

 

Spinner oder Skeptiker: Muss eine Demokratie Querdenker aushalten?

 

Doch sind Verfechter dieser Theorien tatsächlich alles Spinner? Oder ist dieses Schubladendenken schlicht zu borniert, viel zu einfach für ein doch so komplexes Phänomen, welches sich immerhin durch alle Bevölkerungsschichten zu ziehen scheint und nicht erst seit der Coronakrise existiert? 

Laut zahlreichen Studien neigen über 50 Prozent der weltweiten Bevölkerung zu verschwörungstheoretischen Tendenzen. Wobei  eine Umfrage der Deutschen-Presse-Agentur ergab, dass Corona-Fehlinformationen zwar ein globales Problem, Zusammenkünfte wie die so genannten Hygiene-Demonstranten hierzulande allerdings weitaus stärker ausgeprägt seien, als anderswo. 

So zeigt auch eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, dass schon weit vor Corona rund 46 Prozent der Deutschen an geheime Organisationen glaubten, die großen Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen.

Ist die Verschwörungstheorie also ein deutsches Phänomen? 

Und wenn ja, ist das schlecht oder muss eine gut funktionierende Demokratie das Querdenkertum als Teil der Meinungsfreiheit tolerieren? 

Wie entstehen und funktionieren Verschwörungstheorien, wer profitiert davon, wer glaubt daran und wie lässt sich damit umgehen? 

Im aktuellen Monatsthema soll es um eben diese Fragen gehen, Ursachen für Verschwörungstheorien, die es bereits seit Jahrhunderten gibt, sollen erforscht werden. 

Neben einer Auflistung der wichtigsten „alternativen Wahrheiten“, beschäftigt sich der HELMSTEDTER SONNTAG diesen Monat mit Theorien von Verhaltensforschern und Sozialpsychologen.

Über Vertuschungen und elitäre Pläne 

Parapolitik – dieser Begriff klingt zumindest um einiges seriöser als der gängige Ausdruck „Verschwörungstheorie“. Debatten und Erklärungsversuche rund um Geschehnisse und Phänomene (alltags)kultureller, religiöser und politischer Art gibt es seit vielen hundert Jahren, angefangen im Mittelalter, zu dessen epochalem Ende die Verschwörungstheorie um die Hexenlehre zu einer systematischen Verfolgung und Tötung von meist weiblichen Personen führte, denen man Zauberkräfte nachsagte. 

Sicherlich gab es Verschwörungen und parapolitische Theorien bereits weit davor, diese sind jedoch nicht entsprechend dokumentiert. Der Mangel an schriftlichen Nachweisen mag auch als Erklärung benutzt werden, weshalb Verschwörungstheorien bis zur Gegenwart zuzunehmen scheinen. So hat es aktuell zu Coronazeiten den Anschein, als hätten alternative Interpretationen Hochkonjunktur. Dies, so Experten, sei jedoch irreführend: Durch die neuen Medien verbreiteten sie sich lediglich  schneller, zudem bauten die meisten Verschwörungstheorien rund um Covid-19 und die daraus resultierenden Maßnahmen auf bereits existierenden parapolitischen Debatten auf und müssten nicht erst „neu erfunden“ werden. 

Macht, Korruption und Vertuschung in der Politik

„In der Politik passiert nichts durch Zufall“, sagte einst Franklin Roosevelt. „Und wenn doch, dann hat es jemand so geplant.“ Das Zitat reflektiert gut den Argwohn, den ein Teil der Bevölkerung gegen Menschen in Spitzenpositionen hegt. Getreu dem Motto „Wer Macht hat, wird sie auch nutzen“ beschäftigen sich die meisten der Verschwörungstheorien mit politischen Geschehnissen. Eine der bekanntesten, die Pearl Habor-Verschwörung, zieht sogar den Verfasser des oben genannten Zitats selbst als Strippenzieher zur Verantwortung: Roosevelt habe Kenntnis über den japanischen Angriff auf Pearl Habor vom 7. Dezember 1941 gehabt, diesen jedoch mit dem Ziel, die amerikanische kriegsunwillige Bevölkerung für den Eintritt der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg, der nur einen Tag nach dem Angriff erfolgte, umzustimmen, hingenommen. 

Nicht jede Verschwörung bleibt Theorie

Ein ähnliches Vorgehen wird der USA auch im Zuge der Kuba-Krise (der Geheimplan „Operation Northwood“ sah 1962 vor, mittels inszenierter Terroranschläge unter falscher Flagge die geplante Invasion auf Kuba zu legitimieren) sowie während des, beziehungsweise zur Vorbereitung einer Beteilung im Vietnamkrieg vorgeworfen. Als „Tonkin-Zwischenfall“ ist der vermeintliche Torpedoangriff von nordvietnamesischen  Schnellbooten auf US-amerikanische Kriegsschiffe im Golf von Tonkin bekannt, der zum Kriegseintritt der USA führte. Obwohl bereits früh Zweifel an der Berichterstattung der US Navy geäußert wurde, dauerte es rund 20 Jahre, bis bewiesen wurde, dass die Vorfälle seitens des Pentagons bewusst falsch dargestellt wurden. 

Natürlich müssen auch die Spekulationen rund um den 11. September Erwähnung finden: Die meisten Verschwörungstheoretiker gehen davon aus, dass Präsident George W. Bush die Terroranschläge von 2001 entweder selbst geplant oder zumindest von ihnen gewusst und sie billigend in Kauf genommen habe. Im Zuge des folgenden „War on Terror“ marschierte die USA in den Irak ein und gab an, Kenntnisse über Massenverichtungswaffen zu haben. 

In diesem Zusammenhang ist oft von der „Bush-Saudi-Connection“ die Rede; hinter der engen Beziehung zwischen dem Bush-Clan und den in Saudi-Arabien herrschenden Familien werden illegale Machenschaften vermutet. 

Im Untergrund wird um die Weltherrschaft gekämpft

Elitäre Gruppierungen, die sich im Geheimen treffen, um den Lauf der Geschichte zu beeinflussen, sind populäre Bestandteile zahlreiche Verschwörungstheorien. 

Prominente Beispiele sind die Studentenverbindung „Skull & Bones“, die Amerika durch ihre Verbindungen zum Drogenhandel, zu Geheimdiensten und zur Weltwirtschaft kontrolliert, der „Bilderberg“-Klub, dessen reiche Mitglieder sich einmal im Jahr treffen, um politische Spitzenpositionen zu besetzen, und die alles antreibenden Freimaurer und Illuminaten, die Schritt für Schritt die Bevölkerung auf eine neue Weltordnung vorbereiten. 

Wie diese aussehen soll, ist Bestandteil anderer Verschwörungstheorien. 

„Bielefeld? Das gibt es doch gar nicht“

Nicht alle Verschwörungen beschäftigen sich mit einem bösen Plan, manche sorgen auch für ein Schmunzeln. So wie die seit über 25 Jahren kursierende „Bielefeld-Verschwörung“, die von Informatikstudenten ins Leben gerufen wurde. Auf einer Party soll ein Kieler einem Bielefelder vorgestellt und darauf „Das gibt es doch gar nicht“ gesagt worden sein. 

Der Ausruf wurde im Internet zu einem Dauerwitz weiter gesponnen, auf den die Stadt selbst im vergangenen Jahr mit einem Wettbewerb reagiert hat. Derjenige, der die Nichtexistenz Bielefeld beweisen kann, gewinnt ein Preisgeld von einer Millionen Euro. 

Was Dreiecke mit Verschwörung zu tun haben 

Im Jahr 1944 erstellten die Psychologen Marianne Simmel und Fritz Heider einen Kurzfilm, der bewegte geometrische Figuren – eine Scheibe, ein Quadrat, welches sich an einer kleinen Stelle öffnen und schließen konnte, sowie ein großes und ein kleines Dreieck – zeigte. Im Zuge eines Experiments sollten 34 Frauen berichten, was in dem Film zu sehen ist. 

Dass 33 der Probandinnen die Szenerie als – teilweise dramatische – Beziehungsinteraktion zwischen Personen (in zwei Fällen wurden die Dreiecke als Vögel betrachtet) interpretierten und diesen komplexe Absichten und Gefühle zuschrieben, wird auch heute noch als Indiz dafür verwendet, dass Menschen dazu neigen, die Komplexität einfachs-ter Sachverhalte zu erhöhen und sich auf die Suche nach der Ursächlichkeit der Situation machen, statt eine „einfache“ oder „offensichtliche“ Interpretation, wie in dem Beispiel die simple Bewegung geometrischer Figuren, wahr- und hinzunehmen. 

Das Autorentrio Marius Raab, Claus-Christian Carbon und Claudia Muth benutzt in seinem Buch „Am Anfang war die Verschwörungstheorie“ die Heider-Simmel-Studie, um einen Erklärungsansatz zu geben, warum Verschwörungstheorien populär sind. Ist es also „die Kraft der Erzählung“, das „Vergnügen an guten Geschichten“, wie Raab selbst in Frage stellt, die nach alternativen Wahrheiten suchen lässt? 

Hinter allem steckt ein böser Plan? 

Das wiederum führt zu der Frage, ob es die Verschwörungstheorie und den dazu passenden Verfechter per se gibt. Was ist überhaupt eine Verschwörungstheorie? Ein „von den Medien und der Politik erfundenes Wort, um die Wahrheit lächerlich zu machen“, wie es Verschwörungstheoretiker selbst umschreiben? 

Als Verschwörungstheorie wird laut der Definition der wissenschaftlichen Zeitschrift „Gehirn & Geist“ (09/2016; in Bernd Harder „Verschwörungstheorien – Ursachen, Gefahren, Strategien“) die Interpretation eines Phänomens oder Ereignisses verstanden, die der gängigen Erklärung widerspricht und die mächtigen Personen oder Gruppen unterstellt, insgeheim der Gesellschaft schaden zu wollen. 

Wichtig scheint es in diesem Zusammenhang eher nach den Gründen zu fragen, wieso Menschen sich neuen Erklärungsansätzen widmen, warum derzeit Personen verkünden, das Coronavirus sei gezüchtet oder nicht existent.

Dass dies ein Teil einer neuen Weltordnung sei, ein Instrument einer groß angelegten Gehirnwäsche, um die Demokratie abzuschaffen, um mittels einer Impfpflicht die Bevölkerung zu kontrollieren und/oder zu dezimieren. Diese genannten Extremfälle sind hetzerisch und gefährlich – insbesondere wenn sie „zum Kampf aufrufen“ -, andere Ansätze fordern ein aktives Eintreten für Demokratie und Menschenrechte. 

Darauf machten auch vielerlei Lesermeinungen, die sowohl schriftlich als auch telefonisch in der Redaktion ankamen, aufmerksam (sogar Kopien und Auszüge von einschlägigen Magazin- und Zeitungsberichten waren dabei). So schrieb „Ferry“: „Eine Verschwörung kann vieles sein. Eine Übereinkunft, ein Abkommen, ein Vertrag, ja im Grunde auch ein Dogma. Dabei muss es nicht bei einer Theorie bleiben, es kann durchaus auch eine Praxis daraus werden. Bei einer Verschwörungstheorie handelt es sich aber meist um etwas Negatives. Und da ist Vorsicht geboten. Nach dem Motto: ‚Wenn man vom Teufel redet, ist er nicht weit.‘ Sicher, manchmal lässt es sich nicht vermeiden, wenn eine Warnung gegeben werden soll. Oft wird aber gegen eine Verschwörung vorgegangen nur weil es nicht der eigenen Auffassung entspricht. Darum gut überdenken, vielleicht ist auch etwas Sinnvolles dabei.“

Die Gründe für „beflügelte“ Theorien

Was laut Psychologen alle Anhänger von Verschwörungstheorien vereint, ist zum Einen die Sehnsucht nach Klarheit. 

„Menschen, die mit Ungewiss-heit schlecht umgehen können, sind Verschwörungstheorien willkommen“, folgert Sozialpsychologinnen Professor Dr. Julia Becker, Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Osnabrück, die eine Studie zum Thema in Auftrag gegeben hatte. Die Leiterin der Studie nennt noch das Gefühl der eigenen Machtlosigkeit  als Grund für eine Anfälligkeit verschwörungstheoretischer Ideen. 

„Meist haben sie nicht so sehr Angst vor dem Virus selbst als vor den gesellschaftlichen Konsequenzen der Pandemie, wie zum Beispiel finanziellen Verlus-ten“, erklärt Becker auch warum manche Personen in den Corona-Einschränkungen keinen Sinn sehen. 

Andere Studien sehen den Menschen als Herdentier, das sich in einer Krise nach einen Anführer sehnt, der einfache, schnelle Lösungen bietet. 

„Dass sich sowohl Politiker als auch Mediziner während der derzeitigen Viruskrise erst hinantasten müssen, ist für viele unerträglich“, zitiert das Redaktionsnetzwerk Deutschland den Psychiatrieprofessor Borwin  Bandelow. 

Dem allen übersteht die Suche nach Wahrheit – eine beschwerliche Suche, wie Raab, Carbon und Muth schreiben. „…Am Ziel – bei der endgültigen Wahrheit – können wir niemals ankommen. Es gibt keine absolute Gewissheit. Theorien, die dies versprechen, führen in einen Abgrund.“ 

Über die mediale Rolle und Verantwortung

Zum Abschluss des Monatsthemas „Verschwörungstheorien“ schreibt ein Leser über Meinungsfreiheit 

Es ist ein gutes Gefühl, wenn man als Redakteur auf seine Berichterstattung angesprochen wird, zeigt es doch, dass die Arbeit „ankommt“. Dabei ist es meist zweitranging, ob die Resonanz durchweg positiv ist. Auch mit negativer Kritik gilt es umzugehen. 

Zum Monatsthema „Verschwörungstheorien“ erreichten mich zahlreiche Anrufe, Mails und auch Briefe. Eine Lesermeinung ist mir persönlich nahe gegangen, warf mir der Verfasser doch darin eine „Beteiligung an der Volksverdummung“ vor aufgrund einer „schlecht recherchierten Berichterstattung“. 

Erst durch einen direkten Dialog konnte ich seine Einwände nachvollziehen, weshalb an dieser Stelle SEINE Sichtweise zu diesem kontroversen Thema (gekürzt) veröffentlicht wird. 

Kai Kirsten wuchs in der ehemaligen DDR auf und war dort aktiv am Veränderungsprozess 1989 beteiligt und „stolz darauf, was wir alle zusammen erreicht haben.“

Er schrieb mir, dass er das Hauptproblem im „medialen Umgang mit diesen Themen und der Rolle sowie der Verantwortung unserer heutigen medialen Welt“ sehe. „Wer andere Menschen als Verschwörungstheoretiker bezeichnet, grenzt diese aus und nimmt für sich den Anspruch der Wahrheit in Kauf. Er outet sich somit der Tyrannei und ist damit nicht mehr in der Lage, mit anderen Menschen einen sachlichen Diskurs zu führen und Kompromisse einzugehen, sondern wertet sie ab.“

Kirsten kritisierte bereits in seiner ersten Mail die interpretierte Gleichsetzung systemkritischer Gedanken und Meinungen mit „verschwörungstheoretischen/parapolitischen Ideen“. Dazu führt er Folgendes aus: 

„Wer für andere Menschen den Begriff Verschwörungstheoretiker anwendet, muss es sich auch gefallen lassen sich der Tyrannei zugehörig zu fühlen. Ich teile die heutigen Medien in abhängig und unabhängig ein – abhängig leider von Wirtschaft und Politik. ‚Wessen Brot ich ess, dessen Lied ich sing.‘ Auch Sie als Journalistin haben ja eine Existenz und diese gilt es zu sichern und zu schützen. Schade, wenn man nicht wirklich frei ist, dann muss man sich halt verbiegen lassen und anpassen, wie früher in der DDR. Das Problem mit den abhängigen Medien ist auch nicht, dass sie lügen – ich hasse den Begriff Lügenpresse und würde ihn nie verwenden – sondern, dass sie nicht die Wahrheit wiedergeben und auch kein Interesse an dieser haben, beziehungsweise diese nicht wiedergeben dürfen oder nur die Nachrichten aus Deutschland und der Welt zeigen, die vom systemtreuen Intendanten gewünscht und zensiert wurden.Ein weiteres großes Problem ist der heutige Umgang mit der so genannten Meinungsfreiheit. In der DDR wusste jeder, dass souveränes Denken und freie Meinungsäußerung nicht gewünscht war und sogar gefährlich enden konnte. Es war jedem bekannt, wurde (halb) öffentlich propagiert und es wurde mit der Angst der Menschen regiert.  Man hat sich praktisch zwei Meinungen zugelegt, eine private für den Freundeskreis und die Familie und eine „linientreue“ für Gesellschaft und Öffentlichkeit. Damals wussten zumindest 99 Prozent der Menschen, dass sie veralbert werden. Heute ist das durch die modernen Techniken der Massenmanipulation in den Medien, gesteuert durch unsere Politik, ein anderes Thema. Ich kannte so viel Menschen damals, es war nicht ein linientreuer darunter.  Jeder hatte zwei Gesichter. Und dieses Phänomen beobachte ich seit einiger Zeit auch in unserer heutigen Gesellschaft. Jeder hat zwar seine eigene Meinung und darf diese laut unserem Grundgesetz auch äußern, aber kaum jemand tut es öffentlich. Und tut man es doch, wird man denunziert, diffamiert, in irgendwelche Ecken oder Schubladen geschoben und das nun einmal leider auch von den Medien“. 

In der Folge, so Kirsten, trauten sich die meisten Menschen nicht, sich ihre Meinung einzugestehen: „Zwar braucht man sich vor Willkür und angedrohter Gewalt bis hin zur Inhaftierung zum Glück keine Gedanken zu machen, aber die Bedrohung der eigenen materiellen Existenz ist auch schon ein großer Beweggrund. Die Konsequenzen meiner Meinungsäußerung muss ich dann alleine ausbaden. Und noch einmal: Ich meine hier nicht Hass und Hetzte und unsachliche Beleidigungen in sozialen Netzwerken, sondern sachliche klare Diskussion in der Öffentlichkeit. Ich habe das Gefühl, es herrscht zurzeit eine Diktatur des Schweigens, ähnlich der Firmenpolitik, die vor kurzem noch bei einem großen niedersächsischen Automobilkonzern gang und gäbe war und leider in vielen Firmen immer noch auf der Tagesordnung steht.

Wenn man heutzutage eine gewisse Stellung beziehungsweise Ansehen in unserer Gesellschaft, in der Politik oder im Arbeitsleben erreichen will, muss man sich verbiegen lassen und sich anpassen. Da passt die eigene Meinung oft nicht hinein. 

Unsere heutige Bevölkerung steckt in einem Denkmuster fest, welche ihr von den abhängigen Medien seit Jahren vermittelt wurde. Ihr wurde dadurch beigebracht, dass sie Kompetenzen besitzt, im Sinne eines angeblich demokratischen Systems etwas entscheiden und bewirken zu können. An diesen Grundlagen fehlt es aber und es ist auch nicht gewünscht. Wer das Narrativ beherrscht und kontrolliert, der kontrolliert auch den Geist der Menschen und hat erheblichen Einfluss auf deren Meinungsbildung.“

Kirsten schließt mit einem Appell, sich der Bedeutung der unabhängigen Berichterstattung bewusst zu werden, die einen Teil dazu beitrage, „uns eine freie, sichere, friedvolle Zukunft voller Freude und Liebe zu gestalten“.

Chefredakteurin at Helmstedter Sonntag | + posts

Katja Weber-Diedrich, geboren 1976 in Helmstedt, ist seit fast 30 Jahren Lokaljournalistin durch und durch. Der Legende nach tippte die ehrenamtlich Engagierte vor 25 Jahren den ersten HELMSTEDTER SONNTAG an einer Bierzeltgarnitur. Sowohl die Tiefen der deutschen Grammatik als auch die Wirren der Helmstedter Politik sind der Chefredakteurin nicht fremd; ihr Markenzeichen sind ehrliche Kommentare und Hartnäckigkeit.